Nahtoderfahrungen und ähnliche spirituelle Erlebnisse weisen auf ein Leben nach dem Tod und das Wirken einer allumfassenden Liebe hin. Das ist eine Herausforderung für das materialistische Weltbild, das auf Grund von Naturbeobachtungen ein ganz andere Wirklichkeit postuliert: Die Natur erscheint als „Schlachtfeld“, wo die am besten Angepassten überleben. Das „Prinzip Liebe“ scheint nicht maßgeblich zu sein.
David Schuy hat sich zu diesem Thema Gedanken gemacht, fasst das Wesentliche der unterschiedlichen Standpunkte zusammen, und sieht in der Freiheit des Menschen zur Wahl den entscheidenden Faktor.
„Gott ist hier“ oder „Gott ist nirgends“
Im Englischen gibt es einen Satz, der auf den ersten Blick ganz einfach erscheint: „God is now here“. Doch rückt man die Buchstaben der letzten beiden Worte ein wenig zusammen, liest man plötzlich etwas völlig anderes: „God is nowhere“. Zwei Welten, die sich allein durch die Perspektive unterscheiden. Für Gläubige zeigt der Satz die Nähe Gottes, die Hoffnung, dass da mehr ist als das bloße Sichtbare. Für Naturalisten oder Atheisten steht er für eine Welt ohne Gott, eine Welt, die nur von Zufall, Notwendigkeit und Naturgesetzen regiert wird.
Doch welche Wahrheit hat das letzte Wort? Liebe oder Gewalt?
Die Wildheit der Natur: „Red in tooth and claw“
Im 19. Jahrhundert schrieb Alfred Lord Tennyson in seinem Gedicht In Memoriam A.H.H. die berühmten Zeilen:
„Nature, red in tooth and claw.“
Diese Worte sind wie ein Messer: Sie schneiden durch romantische Vorstellungen einer harmonischen Natur und zeigen, was die Wissenschaft bestätigt hat: Die Natur ist nicht sanft; sie ist ein Schlachtfeld. Überall finden wir den Kampf ums Überleben, den gnadenlosen Wettbewerb, in dem Raubtiere Beute reißen und das Schwächere dem Stärkeren weichen muss.
Charles Darwin beschrieb dies später als „Survival of the Fittest“ – das Überleben der am besten Angepassten.
Doch dieser brutale Mechanismus ist nicht nur Zerstörung. Er hat Leben hervorgebracht, unglaubliche Vielfalt geschaffen. Gewalt ist nicht nur Leid; sie ist auch Schöpfung, so paradox das klingt. Die Welt, wie wir sie kennen, wäre ohne diese „rot an Zahn und Klaue“ gezeichnete Wildheit nicht denkbar.
Liebe in einer grausamen Welt
Doch wo bleibt die Liebe in all dem? Ist sie bloß eine Illusion, ein Trick der Evolution, um die Weitergabe von Genen zu sichern? Oder ist sie etwas Höheres, vielleicht sogar das letzte Gesetz der Schöpfung, wie spirituell orientierte Menschen sagen?
Hier zeigt sich die Kluft zwischen zwei Weltanschauungen:
Für Naturalisten ist Liebe ein Produkt der Evolution. Empathie und Altruismus sind Mechanismen, die das Überleben in sozialen Gruppen fördern. Liebe mag schön sein, aber sie ist nicht universell – sie ist ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck.
Für spirituell orientierte Menschen ist die Liebe jedoch mehr. Sie ist keine Strategie, sondern eine Essenz.
Christen glauben, dass Gott selbst die Liebe ist – nicht nur eine Eigenschaft Gottes, sondern sein ganzes Wesen. Diese Liebe hat das letzte Wort, selbst in einer Welt voller Tod und Gewalt.
Das Kreuz Jesu Christi, das Leiden und die Auferstehung, ist für sie der Beweis, dass die Liebe auch inmitten der grausamsten Realität triumphiert. In diesem Glauben ist die Wildheit der Natur nicht das Ende der Geschichte. Sie ist ein Kapitel, aber nicht das letzte.
Die zwei Perspektiven: „God is now here“ vs. „God is nowhere“
Ob man in der Welt Gott erkennt oder nur die blinde Gewalt der Evolution, hängt von der Perspektive ab. Es ist, als stünde man vor einem Gemälde, das je nach Blickwinkel etwas anderes zeigt.
• Gläubige sehen einen Plan in der Schöpfung, auch wenn er oft verborgen bleibt. Der Kampf in der Natur ist real, doch sie glauben, dass hinter der sichtbaren Welt eine unsichtbare Ordnung liegt. Sie vertrauen darauf, dass die Liebe – sei es in Form von Mitgefühl, Vergebung oder Hoffnung – die Grundmelodie der Existenz ist.
• Naturalisten sehen keinen Plan, keine Melodie. Was existiert, sind Zufall und Notwendigkeit, Mutation und Selektion. Liebe ist ein faszinierendes, aber erklärbares Phänomen, das aus den biologischen Prozessen der Natur hervorgeht. Gewalt ist für sie das fundamentale Gesetz des Lebens.
Und was bedeutet das für uns heute?
Diese Frage ist mehr als philosophisch – sie betrifft unser tägliches Leben. Denn auch unsere Welt, unsere Gesellschaft, schwankt zwischen Liebe und Gewalt. In politischen Konflikten, in wirtschaftlichem Wettbewerb, sogar in persönlichen Beziehungen zeigt sich oft der Kampf ums Dasein. Doch ebenso gibt es Akte der Güte, der Solidarität und des Mitgefühls, die uns zeigen, dass mehr möglich ist als bloße Konkurrenz.
Wenn wir uns entscheiden, an die Liebe zu glauben – sei es aus religiöser Überzeugung oder aus humanistischer Hoffnung –, stellen wir uns gegen die Gewalt. Wir wählen bewusst eine andere Perspektive. In einer Welt, die „red in tooth and claw“ ist, wählen wir, ein anderes Gesetz zu schreiben.
Die Freiheit zur Wahl
Vielleicht liegt die tiefste Wahrheit in der Freiheit des Menschen. Wir können entscheiden, wie wir die Welt sehen und gestalten. Wir können „God is nowhere“ lesen – und in der Grausamkeit der Natur unser Schicksal sehen. Oder wir können „God is now here“ lesen – und in der Liebe ein Versprechen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Am Ende mag Tennysons Dilemma ungelöst bleiben: Ist die Liebe oder die Gewalt das letzte Gesetz der Schöpfung?
Doch vielleicht liegt die Antwort nicht in der Natur, sondern in uns. In unserem Handeln, in unserem Glauben, in unserer Fähigkeit, Liebe zu wählen – selbst inmitten einer Welt, die „rot an Zahn und Klaue“ ist.
Titelfoto: KI-Generiert via „Photoshop“