Das Christentum und der Reinkarnationsgedanke – ein Widerspruch?

Lassen sich der christliche Glaube und der Reinkarnationsgedanke vereinbaren? Eine Spurensuche zwischen Bibel, Aramäisch und verborgener Mystik von David Schuy.

Von der Wiedergeburt zur göttlichen Einheit: Was sagte Jesus über das Leben nach dem Tod?

Wenige Themen faszinieren spirituell suchende Menschen so sehr wie die Vorstellung von Wiedergeburt – also der Idee, dass unsere Seele nicht nur einmal lebt, sondern sich über viele Leben hinweg entfaltet. Doch während Reinkarnation im Buddhismus und Hinduismus tief verankert ist, wird sie im Christentum meist als fremd oder gar ketzerisch angesehen.

Aber war das wirklich immer so?

Ein genauerer Blick auf die Sprache Jesu (Aramäisch), die frühe christliche Vielfalt, die Rolle mystischer Texte wie dem Thomas-Evangelium sowie auf biblische Figuren wie Elija und Johannes der Täufer lässt erkennen: Die Spurensuche zum Reinkarnationsgedanken führt auch zurück zu Jesus selbst.

Die aramäische Welt Jesu – ein spiritueller Kosmos

Jesus sprach Aramäisch, nicht Griechisch oder Latein. In dieser Sprache, die heute nur noch von wenigen gesprochen wird, stecken feine Bedeutungsnuancen, die in den späteren Bibelübersetzungen oft verloren gingen.

In der aramäischen Spiritualität gab es Raum für die Vorstellung, dass die Seele nicht mit einem einzigen Leben abgeschlossen ist. Diese Ideen lebten besonders in Gruppierungen wie den Essenern, mit denen Jesus vermutlich Kontakt hatte. Die Essener glaubten, dass die Seele nach dem Tod in neue Körper zurückkehren könne, um sich weiter zu läutern und der göttlichen Quelle näherzukommen.

Das Vaterunser und die Versuchung der Sprache

Ein zentrales Gebet der Christenheit ist das Vaterunser, in dem es heißt: „Und führe uns nicht in Versuchung.“

Viele haben sich gefragt: Würde ein liebender Gott uns wirklich in Versuchung führen?

Der deutsche Theologe und Journalist Franz Alt sowie Papst Franziskus kritisieren diese Übersetzung als missverständlich. Im aramäischen Originalton Jesu könnte die Passage eher heißen:

„Lass uns nicht in der Versuchung verloren gehen“ oder: „Bewahre uns vor der Verwirrung des Getrenntseins.“

Franz Alt schlägt vor, diesen Vers als psychologischen und spirituellen Prozess zu verstehen: eine Bitte darum, nicht vom Weg der Bewusstheit abzukommen, nicht ins Ego, sondern ins Herz geführt zu werden – im Sinne von „Führe uns in der Versuchung“.

In diesem Licht wird das Vaterunser zum Werkzeug innerer Wandlung – ähnlich wie spirituelle Praktiken in östlichen Religionen, die auf Wiedergeburt und Selbsttransformation abzielen.

Der rätselhafte Fall Johannes der Täufer – die Wiederkehr des Elija?

Ein besonders aufschlussreicher Hinweis auf die Wiedergeburt findet sich in den Evangelien selbst – im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer.

Jesus sagt: „Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elija, der kommen soll.“ (Matthäus 11,14)

Und: „Elija ist schon gekommen, doch sie haben ihn nicht erkannt.“ (Matthäus 17,12)

Im Judentum gab es den Glauben, dass der Prophet Elija, der nicht starb, sondern „im feurigen Wagen gen Himmel fuhr“ (2. Könige 2,11), zurückkehren würde, um das Kommen des Messias vorzubereiten. Und nun sagt Jesus: Johannes ist diese Wiederkunft.

Die Menschen zur Zeit Jesu glaubten an solche Rückkehrmöglichkeiten von Seelen. Wenn also Elija als Johannes wiederkam – was wäre das anderes als Reinkarnation?

Johannes selbst weist dies in Johannes 1,21 zwar zurück („Bist du Elija?“ – „Ich bin’s nicht“), aber das lässt sich auch als Ausdruck von Bescheidenheit oder Unwissenheit deuten – denn die Seele erinnert sich nicht immer bewusst an ihre vorherigen Leben.

Die Logien des Thomas – Worte Jesu jenseits der Kirche

Ein weiterer Schlüssel zur spirituellen Tiefe Jesu liegt in einem Text, der lange verborgen blieb: das Evangelium nach Thomas. Es wurde 1945 in Nag Hammadi (Ägypten) entdeckt und enthält 114 Sprüche („Logien“), die Jesus zugeschrieben werden – oft in radikal spiritueller, innerlicher Sprache.

Zwei besonders bemerkenswerte Logien lauten:

Logion 4: „Viele Erste werden Letzte sein, und sie werden zu einem Einzigen.“

Hier schwingt die Vorstellung einer Wandlung der Seelen mit – vom „Ersten“ (vielleicht Hochmütigen) zum „Letzten“ (Demütigen). Die Aussage, dass viele „zu einem Einzigen“ werden, erinnert an die Rückkehr zur göttlichen Einheit – ein Kerngedanke vieler Wiedergeburtslehren.

Logion 84: „Wenn ihr euer Bild seht, das vor euch war und nicht stirbt, wie viel könnt ihr dann ertragen?“

Was ist dieses „Bild, das vor euch war“? Die gnostische Deutung: Es ist die präexistente Seele, die jenseits von Geburt und Tod existiert – ein Gedanke, der stark an östliche Wiedergeburtsvorstellungen erinnert.

Wiedergeburt im frühen Christentum – und ihr Verschwinden

In den ersten Jahrhunderten nach Jesus gab es vielfältige christliche Strömungen – darunter auch solche, die an Wiedergeburt glaubten. Besonders die Gnostiker, die oft von einem inneren Christusbewusstsein sprachen, sahen das Leben als Weg der seelischen Entwicklung über viele Inkarnationen.

Doch mit der Verfestigung der Kirche zur politischen Machtstruktur wurde dieser mystische Zugang verdrängt. Auf dem Konzil von Konstantinopel (553 n. Chr.) wurde der Glaube an die Präexistenz der Seele und Wiedergeburt als Irrlehre verurteilt. Seither wurde die Vorstellung eines einzigen Lebens mit Himmel oder Hölle zur offiziellen Lehre.

Ein Jesus für die Zukunft – Franz Alt und ein neuer Blick

Franz Alt fordert heute ein spirituell erneuertes Christentum. Eines, das nicht in Dogmen verharrt, sondern den mystischen Jesus wiederentdeckt: den Wanderprediger, der Bewusstsein lehrte, die Liebe als göttliche Kraft erkannte und die Einheit aller Seelen spürte.

In seinen Büchern und Vorträgen betont Alt, dass Jesus nicht gekommen sei, um eine Religion zu gründen, sondern um die Menschen an das göttliche Licht in sich selbst zu erinnern – ganz im Sinne spiritueller Lehrer aller Kulturen. Reinkarnation gehört für Alt dabei zum natürlichen Kreislauf der Seele, die sich entfaltet und wandelt, bis sie wieder bei Gott ankommt.

Jesus und die Wiedergeburt – eine uralte Verbindung?

Jesus sprach in Bildern, Symbolen und spirituellen Gleichnissen. Wer ihn wörtlich nimmt, verfehlt oft den Kern seiner Botschaft: die innere Wandlung, das Aufwachen der Seele, das Heimkehren zum Göttlichen.

Ob über Johannes und Elija, über die mystischen Logien des Thomas oder die aramäische Tiefe des Vaterunsers – immer wieder blitzt eine Sicht auf, die mit der Reinkarnation nicht im Widerspruch steht, sondern sie sogar stützt.

Vielleicht ist es Zeit, Jesus nicht länger nur durch die Augen der Kirchenväter, sondern als universellen Lehrer des Bewusstseins zu sehen. Einen, der uns nicht nur den Weg in den Himmel zeigen wollte – sondern den Weg nach Hause zu uns selbst.

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