„Wenn ich es war, die getötet wurde, warum empfinde ich dann immer noch solche Liebe?“ – Mary Lamberts nicht zwangsläufig verstörender Thriller „Siesta“
Claire (Ellen Barkin) hat mit ihrem Geliebten, Augustine (Gabriel Byrne), als Seiltänzerin und Trapezkünstlerin Karriere gemacht, sich dann aber von ihm getrennt und größere sportliche Herausforderungen als Fallschirmspringerin und draufgängerischer „Daredevil“ gesucht. Nun hat sie gemeinsam mit dem US-amerikanischen Event-Organisator Del (Martin Sheen) ein lebensgefährliches Spektakel geplant: Den Sprung aus einem Flugzeug ohne Fallschirm – in ein kleines Sicherheitsnetz, das noch dazu in Brand gesetzt werden soll. Schauplatz: Death Valley, das „Tal des Todes“.
Wenige Tage vor dem großen Event entschließt sich Claire, ahnend vielleicht, dass es bei diesem Sprung um ihr Leben gehen könnte, nach Spanien zu fliegen, um Augustine dort, im Örtchen „Angeles“, noch einmal zu sehen. Dieser ist inzwischen mit Marie (Isabella Rossellini) verheiratet, aber Claire missachtet diese Beziehung und die Frau an der Seite ihres früheren Geliebten. Sie überredet Augustine zu einem Rendezvous während der „Siesta“ am kommenden Tag … und dann passiert es.
Aber was passiert?
In ihrem ungewöhnlichen Thriller „Siesta“ überlässt es die US-amerikanische Regisseurin Mary Lambert ihrem Publikum, die Ereignisse chronologisch zu rekonstruieren. Wir sehen zunächst Claire gemeinsam mit Del, kurz vor dem lebensgefährlichen Event im „Death Valley“ – und dann, wie sie blutverschmiert am Ende einer Flugzeug-Landebahn in Spanien aufwacht, auf der Suche nach Erinnerungen und Zusammenhängen. Denn Claire hat in diesem Moment keine Ahnung, wie sie hierher gekommen ist.
Es folgen verschiedenste Rückblenden: Claires Besuch bei Augustine … die Szenen seiner eifersüchtigen Frau Marie … der freie Fall beim Skydiving … amouröse Abenteuer in einer zweifelhaften Freundesclique rund um Nancy (Jodie Foster) und Conchita (Grace Jones) … die sexuellen Avancen eines ungustiösen Taxifahrers … die ersehnte Erfüllung bei der Siesta mit Augustine … ein Begräbnis mit Lichterscheinung … alles ein wenig surreal inszeniert, zwischen Komödie und Tragödie mäandernd, so, wie das Leben eben ist.
Aber ist das Leben so?
Warum zeigt die Regisseurin kein geordnetes zeitliches Nacheinander, wie wir den Alltag üblicherweise erfahren? Warum lässt sie so viele Fragen und dramaturgische Lücken offen? Weshalb sind die Szenen nicht chronologisch, sondern nur lose durch die Fäden bestimmter Empfindungsqualitäten miteinander verbunden?
Bei der Antwort auf diese Frage taten sich viele Zuschauer und Kritiker offenbar schwer. „Siesta“ wurde beispielsweise vorgeworfen, „zu anspruchsvoll konzipiert“ zu sein. Der dramaturgische Sinn der Rückblenden leuchte nicht unmittelbar ein. Und die Inhaltsbeschreibungen des Films beschränken sich bis heute auf die belanglose Bemerkung, es ginge „thematisch um Liebe und Tod“ (Wikipedia) sowie um Claires Versuch, ihre alte Beziehung zu Augustine zu reaktivieren.
Ja, warum nur soll der Zuschauer Claire bei ihrer Suche nach Zusammenhängen, nach einer Antwort auf die Frage, warum sie sich plötzlich am Ende einer Flugzeug-Landebahn befand, ganz ohne dramaturgische Führung begleiten? Ihr Bemühen um eine neue Verortung im Dasein so halt- und orientierungslos miterleben?
Was ist wirklich passiert?
Die Frage bleibt praktisch bis zur letzten Szene offen. Hat Claire, wie sie selbst zunächst vermutet, Marie ermordet und die Erinnerung an diese Tat verdrängt? Sind es etwa Bilder von Maries Begräbnis, die in den Fragmenten ihres Lebensfilms auftauchen?
Schließlich, als Claire beobachtet, wie Marie von der Polizei aus dem Haus, in dem die „Siesta“ stattfand, abgeführt wird und der abwesend auf die Straße tretende Augustine sie nicht beachtet, obwohl Claire fast schon durch ihn hindurch läuft, kommt ihr ein Ahnen: Sie war nicht die Täterin. Sie war das Opfer. Das Blut an ihrem Kleid war ihr eigenes. Marie, außer sich vor Eifersucht, hatte mit dem Messer auf sie eingestochen. Und ihre zaghafte, neu dem Leben verbundene Frage lautet: „Wenn ich es war, die getötet wurde, warum empfinde ich dann immer noch solche Liebe?“
Es ist die Frage, die alles klärt.
Und die die Zuschauer vor die Entscheidung stellt, Claires Erlebnisse entweder als nachtodliche Perspektive zu akzeptieren, in der sich jenseits starrer Chronologie entscheidende Empfindungsmomente aneinanderreihen – oder eben nicht. Dann allerdings wird diese „Siesta“ wohl eher verstörend in Erinnerung bleiben.
(1987, 97 Minuten)
Ein Beitrag von Werner Huemer