Eine Würdigung des antiken griechischen Philosophen (427–347 v. Chr.)
Ob jemand nun zur Philosophie einen besondern Bezug hat oder nicht: Manche gleichnishaften Bilder aus der Jahrtausende alten Geschichte der „Liebe zur Weisheit“ (philo-sophía) prägen wie selbstverständlich unser Denken und auch unsere Sprache. Sie erscheinen fast so „ewig“ und allgemein gültig wie ein Naturgesetz, so dass sich die Frage nach ihrem Ursprung gar nicht erst stellt.
Zu solchen Bildern gehört das „Licht der Erkenntnis“ oder das „Licht der Wahrheit“. Niemand würde Wahrheit und Erkenntnis mit Dunkelheit assoziieren. Damit verbunden ist auch das Bild eines Aufstiegs oder einer Aufwärtsentwicklung: Fiele es jemandem ein, den Erkenntnisgewinn mit Abstieg in Zusammenhang bringen? Wohl kaum.
Das Licht ist oben, die Dunkelheit unten, und der Entwicklungsweg zum Erkennen der Wahrheit führt vom bloßen Dahindumpfen hinauf zur Klarheit, dorthin, wo der Erkenntnisraum sich weitet, wo es „auf-klart“, wo „Aufklärung“ (und damit größere Freiheit) erlebt werden kann.
Unsere Sprache zeichnet unmissverständliche Bilder: Demnach können wir Menschen – wie in der äußeren Welt, so auch innerlich – einen Weg beschreiten, der von unten nach oben führt, zu höheren Einsichten gewährt, einem größeren Überblick.
Doch dieser äußerst wirkmächtige, seit Jahrtausenden selbstverständlich erscheinende Grundgedanke fiel nicht als Allgemeingut vom Himmel. Er geht zurück auf den griechischen Philosophen Platon (lat. Plato; 427–347 v. Chr.). Dieser erkannte, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem, was in Wahrheit ist und dem, was wir wahr-nehmen.
Platon entwarf den Gedanken, dass die sinnliche Wahrnehmung dem Menschen nur „Schattenbilder“ von der Wirklichkeit vermittelt. Über der Vielfalt aller Erscheinungen, die wir in der physischen Welt mit unseren Sinnen wahrnehmen können, gebe es ein Reich unveränderlicher Urbilder oder „Ideen“, und nur hier, im Ewig-Unveränderlichen, könne die Wahrheit gefunden werden. Deshalb müsse der Weg des Menschen von der sinnlichen Erfahrung weiter zur Erkenntnis dessen führen, was über dieser Erfahrung steht und sie erst ermöglicht.
Schönheit etwa könne zunächst sinnlich erlebt werden, doch das sei nur die unterste Stufe einer Entwicklung, die schließlich zum geistigen Erkennen von Schönheit an sich führen solle. Die „Idee“ von Schönheit gehöre einer höheren Wirklichkeit an, aus der die physische Vielfalt schöner Erscheinungen hervorgehe.
Platon sah die materielle Welt also in Abhängigkeit von einer höheren, immateriellen Wirklichkeit. Diese Überzeugung prägte auch sein Menschenbild: Der physische Körper sei abhängig von einem immateriellen Lebensprinzip, nämlich der Seele. Für diese sei der Körper nur „Wohnstatt“, „Gefäß“ oder auch „Gefängnis“. Die Seele existiere nach dem Tod weiter, so unabhängig, wie sie auch schon vor der Entstehung des Körpers existiert habe.
Auch den Sinn des physischen Lebens wusste Platon zu erklären: Es diene der Seele. Sie habe durch die alltäglichen Anforderungen Gelegenheit, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften zur Geltung zu bringen, lust- und schmerzvolle Erfahrungen zu sammeln, und sie solle durch ethisch einwandfreie Entscheidungen das Gute fördern und niedere Begehrlichkeiten zügeln.
In der Seele steckt nach Platon die eigentliche Persönlichkeit des Menschen, und alle Entscheidungen im physischen Leben bestimmen über das weitere Schicksal des Menschen nach dem körperlichen Tod. –
Platon beeinflusste mit seinem Werk das abendländische Denkens nachhaltig. Alfred North Whitehead (1861–1947), ein berühmter Philosoph des 20. Jahrhunderts, meinte sogar, dass die gesamte europäische Philosophiegeschichte eigentlich nur aus Fußnoten zu Platon bestünde.
Seine Annahme einer eigenständigen immateriellen Wirklichkeit legte auch den Grundstein für das, was später Metaphysik genannt wurde.
Und wenn sich aktuelle spirituelle Lehren als neue Gegenentwürfe zu den materialistisch-naturalistisch geprägten Weltbildern heutiger Zeit präsentieren, so lugt bei näherer Betrachtung der Inhalte oft ebenfalls einfach nur der gute alte Platon durch.
Wenn Gedanken so wirkmächtig sind, dass sie – allenfalls in unterschiedliche Sprachkleider gehüllt – die Jahrtausende überdauern, dann vielleicht deshalb, weil sie tatsächlich aus dem Ewig-Unveränderlichen schöpfen … aus der Wahrheit.
Ein Beitrag von Werner Huemer