Filmempfehlung: „Lebe zweimal, liebe einmal“

María Ripolls Tragikomödie lässt keinen Zweifel daran aufkommen: Der Mensch lebt im Hier und Jetzt. Und das kann sogar angesichts einer Demenzerkrankung mit ihren zahlreichen Einschränkungen noch gelingen …

„Emilio, welcher Tag ist heute?“ Der Angesprochene reagiert gereizt auf diese offenkundig zu simple Frage, die seine überragende Intelligenz als emeritierter Mathematikprofessor zu beleidigen scheint. Die Mitarbeiterin eines Seniorenheims für an Demenz erkrankte ältere Menschen lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und beharrt auf einer Antwort, die schließlich widerwillig-mürrisch begleitet von empörtem Mienenspiel und in herablassendem Tonfall erfolgt.

Mit dieser prägnanten, anfänglich fast bizarr und unfreiwillig komisch anmutenden Szene, die sich als Schlüsselthema durch den Film zieht und den allmählichen, aber unerbittlich voranschreitenden Verlauf der Erkrankung dokumentiert, ist der zentrale Stoff bereits hinreichend dargestellt. Ein ehemaliger Mathematikprofessor im Ruhestand, allein lebend, bekommt die Diagnose durch seinen Arzt routiniert und sachlich mitgeteilt, verbunden mit einigen Eckdaten zu Symptomen und Verlauf des Krankheitsbildes.

Emilio scheint sich nicht allzu viel aus diesen Verlautbarungen zu machen und kehrt zunächst zu seinen geliebten Alltagsroutinen zurück: Lesen, die Musik klassischer Komponisten hören, täglich in einem Altstadtcafé brunchen, dazu ein Glas Rotwein geniessen, ein kleiner Spaziergang anschließend, dann wieder sein vertrautes Heim – Emilio hat es sich so angenehm wie möglich eingerichtet. Man möchte ihm sein störrisch wirkendes Festhalten an seinem unabhängigen, selbständigen Leben gern gönnen, wäre da nicht der sich ankündigende Verlust der Autonomie aufgrund des krankheitsbedingt schwindenden Kurzzeitgedächtnisses sowie die Sorge seiner Tochter Julia, die sich frühzeitig um seine Betreuung kümmert, ihm sogar das Leben in der Stadtwohnung ihrer dreiköpfigen Familie anbietet. Und bald bemerkt auch Emilio, was auf ihn zukommen könnte, da er nach Besuch seines Stamm-Bistrots immer häufiger orientierungslos durch die Straßen irrt. So beschließt er eines Nachmittags spontan seine einstige Jugendliebe ausfindig zu machen, setzt sich kurzerhand in seinen Citroén, dessen verblichene Imposanz Emilios Ernsthaftigkeit bei seinem Unterfangen karikiert, um seinen Schwarm aus Jugendtagen noch einmal zu sehen bevor … die Erinnerung an sie durch die Krankheit ebenfalls verloren sein könnte. Margarita heißt die Angebetete von einst, die Emilio in all den Jahren getrennt geführter Leben nie ganz vergessen hat.

Weit kommt der Romantiker in spe allerdings nicht: Die an einer leichten Gehbehinderung und der Überbesorgtheit der Mutter leidende Enkeltochter Blanca überrascht ihn im Moment seiner Abfahrt mit einem unangekündigten Besuch, den Emilio zunächst in seiner etwas ruppigen, kurz angebundenen Art abzuwehren sucht. Blanca hat allerdings über das gelegentliche Ausspionieren von Emilios Smartphone, dessen Anschaffung eine rasch ergriffene Vorsorgemaßnahme der sich sorgenden Tochter Julia war, bereits eine Ahnung davon, was der Senior an diesem Nachmittag vorhaben könnte und konfrontiert ihn in ihrer direkten, beinahe etwas nötigend wirkenden Art mit ihrer Vermutung. Auch Emilios haltlos unterlegenen Ausflüchte vermögen Blanca nicht zu überzeugen. Zu guter Letzt spielt sie ihre technische Überlegenheit im Umgang mit dem Navigationssystem des Smartphones zu ihren Gunsten aus und macht dem Großvater klar, dass er in ihrer Begleitung sehr viel effizienter und schneller ans Ziel kommt. Diesem stichhaltigen Argument muss sich nun wohl oder übel auch Emilio geschlagen geben, da er ohnehin nicht mit allzu großer Geduld gesegnet scheint. Und so macht sich das ungleiche Paar auf den Weg zu Margarita, über die Emilio mit Blancas tatkräftiger Hilfe nur in Erfahrung bringen konnte, an welcher Universität sie zuletzt beschäftigt war und in welcher Stadt sie vermutlich wohnt.

Ab hier könnte man nun seichte Unterhaltung für den Fortgang des Films vermuten, die sich in Situationskomik und dem Generationsunterschied von Großvater und Enkelin sowie deren maximal voneinander abweichenden Interessen erschöpft. Tatsächlich kommt es aber schon vor der Ankunft am vermeintlichen Ziel anders, die beiden ungleichen Reisepartner sehen sich plötzlich in einer Art Auflehnung gegen Blancas überbesorgte Mutter Julia vereint, die die Tochter und nun auch den Großvater mit Ihrer (Für-) Sorge einengt und zu kontrollieren sucht.

Um nicht den gesamten Inhalt zu verraten: Der angestrebten Begegnung mit Margarita sind zahlreiche Hürden in den Weg gestellt, die nur am Rande mit Emilios Erkrankung oder seiner technischen Unbeholfenheit bei der Benutzung seines Mobiltelefons und dem Versuch der genaueren Adressermittlung von Margaritas derzeitigem Zuhause zu tun haben. Stattdessen werden wir Zeuge der Fragilität menschlicher Beziehungen im allgemeinen und der häufig illusionären Stabilität familiärer Verbindungen im besonderen, obschon Emilios Tochter Julia nichts unversucht lässt, die Familie angesichts weiterer auftretender Verwerfungen näher zusammenzuführen und zusammenzuhalten.

Wird es Emilio und Margarita gelingen, die Erinnerung an den unbeschwerten Nachmittag am Strand im Zeichen einer damals zart wachsenden Jugendliebe noch einmal aufleben zu lassen? Hat sie, Margarita, in all den Jahren vielleicht auch gelegentlich an ihn, Emilio, gedacht? Und wird er Margarita überhaupt treffen?

Knapp zwei Stunden bittersüßer Reminiszenzen an die nicht genutzten Möglichkeiten von einst lassen keinen Zweifel daran aufkommen: Der Mensch lebt im Hier und Jetzt. Und das kann sogar angesichts einer Demenzerkrankung mit ihren zahlreichen Einschränkungen noch gelingen.

Ein Beitrag von Werner Nieke, Quelle:  https://wp.me/paXmBM-1b

Informationen zum über Netflix: https://www.netflix.com/at/title/80233408

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