„Die Daten weisen darauf hin, dass Bewusstsein nicht an ein funktionierendes Gehirn gebunden ist“

Univ.-Doz. Dr. Eckart Ruschmann ist Psychologe, Philosoph und Leiter des „Bodensee Kollegs“. Er beschäftigt sich unter anderem seit vielen Jahren mit Todesnähe-Phänomenen und sagt als Resümee: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Bewusstseinstätigkeit auch weitergeht, wenn der klinische Tod eingetreten ist.“

In diesem Gespräch geht es auch um die spannende Frage, weshalb trotz vieler Fakten und Erkenntnisse im Bereich der Sterbeforschung an dem heute vorherrschenden materialistischen Weltbild von Seiten der Wissenschaft nicht gerüttelt wird. Es gibt dafür eine psychologische Erklärung. (Der folgende Text ist die Transkription eines Video-Interviews, das 2017 für „Thanatos TV“ stattfand.)

 

Herr Dr. Ruschmann, Sie sind Psychologe und Philosoph und haben sich unter anderem eingehend mit einem Thema beschäftigt, das unser Weltbild sehr weitreichend verändern könnte, nämlich mit dem Phänomen der Nahtoderfahrungen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

RUSCHMANN: Das liegt schon relativ lange zurück, ich habe ja sozusagen ein früheres Leben am Institut für Grenzgebiete in Freiburg mit Prof. Bender, dort habe ich Psychologie studiert, und da war dieses Thema sehr früh bekannt und wurde behandelt. Ich erinnere mich an eine Tagung, wo Pim van Lommel mit auftrat, lange bevor er bekannt geworden ist. Das Thema beschäftigt mich also schon sehr lange, weil Nahtoderfahrungen eine Form von Außergewöhnlichen Erfahrungen darstellen, die in besonderer Weise Anforderungen an die Interpretation stellen. Und da scheiden sich dann die Geister.

Dieses Phänomen der Nahtoderfahrungen ist heute weitgehend bekannt, dennoch gibt es sehr unterschiedliche wissenschaftliche Interpretationen. Warum ist das so?

RUSCHMANN: Worauf es eigentlich ankommt, ist, dass die Interpreten unterschiedliche weltanschauliche Hintergrundannahmen haben. Die werden jedoch so gut wie nie diskutiert, sie bleiben meist implizit. Und das macht das Problem aus – mit einer bestimmten Weltanschauung, die heute gerade bei Wissenschaftlern dominant ist, also dem Naturalismus in verschiedenen Formen, müssen Sie die Nahtoderfahrungen in das Gerüst Ihrer Weltsicht hineinpressen, so dass es Bewusstseinstätigkeit ohne ein funktionierendes Gehirn einfach nicht geben kann.

Wenn dann solche Phänomene berichtet werden, müssen Sie irgendwie damit so umgehen, dass Sie doch da hineinpassen, denn sonst wird die eigene Weltanschauung in Frage gestellt. Und das wird in dieser Form selten thematisiert. Es geht dann immer um die Einzelfakten, aber die Interpretationen stehen eigentlich von vornherein fest, darüber wird gar nicht diskutiert, vor allem, weil viele Interpreten – gerade die naturalistischen – nicht darum wissen, dass es ihre impliziten metaphysischen Hintergrundannahmen sind, die da „wirken“. Sie meinen, sie hätten eine wissenschaftliche Weltanschauung, und das ist dann immun gegen jede Kritik und gegen jede Hinterfragung, Relativierung und Diskussion.

Was ist Ihre zentrale Kritik am Naturalismus? Warum ist es schlecht, Nahtoderfahrungen naturalistisch erklären zu wollen?

RUSCHMANN: Es ist einfach deswegen schlecht, weil es die Interpretation extrem beschränkt, aber nicht nur das, es begrenzt auch die wissenschaftliche Erforschung der Phänomene. Jemand, der sich mit solchen Phänomenen ernsthaft beschäftigt, hat große Probleme, eine wissenschaftliche Karriere zu machen.

Verbunden sind dabei eigentlich die Phänomene des Lebens und des Bewusstseins. Die Frage, wie Leben entstanden ist, wie das Leben sich entwickelt hat und auf welche Weise dann Bewusstsein hinzugekommen ist ab einem bestimmten Punkt, das sind zentrale Fragen, und die naturalistische Weltsicht hat sich da sozusagen festgelegt, dass das Ganze wie von selbst – „emergent“ sagt man, und das heißt eigentlich „von unten nach oben“ – entstanden ist, aber es bleibt unhinterfragt, dass die Mechanismen, wie Leben und Bewusstsein entstanden sind, völlig ungeklärt sind. Und nach allem, was wir heute wissen, sind die Unwahrscheinlichkeiten so groß, dass von einer Zufallsentwicklung – Mutation und Selektion –, von einer zufälligen Entstehung des Lebens und der Arten und dann auch des Bewusstseins gar nicht gesprochen werden kann. Aber, wie gesagt, das ist inzwischen fast zu einer Standard-Weltanschauung geworden, und bei den Nahtod-Erfahrungen hat dies eben erhebliche Auswirkungen, weil damit die Erfahrungen relativiert werden und ihr Nutzen, den sie für eine Erweiterung unseres Weltbildes haben könnten, wird damit stark eingeschränkt und begrenzt.

Es müsste doch eigentlich das Anliegen der Wissenschaft sein, seltsame Phänomene wirklich erklären zu wollen. Woher kommt diese Scheu, ein Weltbild zu erweitern, grundsätzlich ganz neue Gedanken zuzulassen?

RUSCHMANN: Das liegt in gewisser Weise auch in der Natur unserer Bewusstseinsprozesse selber, weil wir die Welt ja nur durch bestimmte Konzepte, quasi Schablonen, erfassen können, und diese entwickeln sich, dann werden sie stabil, so etwa mit 20 bis 25 Jahren hat man relativ stabile Konzepte entwickelt, und jetzt ergibt sich das Eigenartige aber auch Nachvollziehbare: Wenn Sie einer Erfahrung begegnen, entweder als eigene Erfahrung oder als Erfahrung von anderen, oder auch empirischen Daten –das ist ja auch ein Erfahrungsfeld –, die nicht zu den eigenen Konzepten passen, dann ist es sehr viel leichter, die Erfahrung zu verzerren und das Konzept beizubehalten, als die Erfahrung erst einmal sprechen zu lassen und das Konzept zu erweitern. Das ist ein interessantes Phänomen, das auch mit Reifung zu tun hat.

Ich bin ja auch Psychotherapeut, und Carl Rogers, dessen Ansatz mein Haupt-Hintergrund ist, hat das in seiner Prozess-Skala so dargelegt, gerade am Beispiel der Konzepte: Auf der untersten Stufe sind Konzepte starr, fest und rigide, sie werden für Wirklichkeit gehalten, und das entwickelt sich dann weiter, und auf der höchsten Stufe der Prozess-Skala wird der Konstruktcharakter der Konzepte erkannt, und wenn eine Erfahrung damit nicht übereinstimmt, was immer wieder passieren kann, weil die Erfahrungen sehr viel weiter sind als unsere jeweiligen Konzepte, dann wird das Konzept modifiziert, so dass es wieder zur Erfahrung passt.

Es ist eben auch ein Reifungsaspekt, und leider gibt es nicht so sehr viele Menschen, die diesen höchsten Punkt erreicht haben, ich zähle mich da auch nicht dazu, bin auch dauernd am Suchen und Schauen, aber das ist eigentlich die Ursache für die Rigidität der Konzepte, die bei jedem Menschen in gewisser Weise vorzufinden ist, und die Schwierigkeit, die eigenen Konzepte zu verändern, weil sie sozusagen in den Hintergrund treten, implizit werden. Und dann ist es nicht mehr die Weltsicht, die Konzepte über die Welt, die ich habe, sondern „die Welt“ … so ist die Welt einfach, so ist der Mensch, so ist Transzendenz – Gott – beziehungsweise es gibt sie nicht.

Welches Menschenbild haben Sie persönlich? Müssen wir das Phänomen Bewusstsein ganz neu hinterfragen? Gibt es auch noch andere Phänomene, die das naturalistische, materialistische Weltbild in Frage stellen?

RUSCHMANN: Sie können eigentlich die ganze Philosophiegeschichte durchgehen, da finden Sie diese Phänomene. Oder auch sehr stark ab dem 19. Jahrhundert, im Kontext der Erforschung außergewöhnlicher Bewusstseinszustände. Es gibt eine sehr große Zahl von Phänomenen, die eben in dieses Weltbild überhaupt nicht hineinpassen und die deswegen auch rausgehalten werden. Die Parapsychologie zum Beispiel – Prof. Bender hat geglaubt, er könnte sie in Freiburg an der Universität etablieren, es ist nicht gelungen, als Privat-Institut wird das „Institut für Grenzgebiete“ weitergeführt, aber an keiner deutschsprachigen Universität ist heute die Parapsychologie vertreten.

Eine ganze Reihe anderer Phänomene gehören dazu, etwa die Terminale Geistesklarheit, auf die Michael Nahm wieder neu hingewiesen hat, Reinkarnations-Erinnerungen von Kindern – einfach Phänomene, die man beobachten kann, für die man dann eine Interpretation braucht. Auch Sterbebett-Visionen und Nachtod-Kontakte werden immer wieder berichtet, und die benötigen dann eine bestimmte Art von Interpretation, aber wenn der Hintergrund festgelegt ist, steht auch die Deutung bereits fest.

Ich behaupte nicht, dass ich jetzt die Deutung habe, die zu 100 Prozent die Richtige ist, sondern ich sage nur: Wenn man offen ist, dann wird deutlich, dass bestimmte Interpretationen einfach zu eng sind und dem Phänomen nicht gerecht werden, und der Naturalismus muss einfach all diese Grenzbereiche, den Gesamtbereich der Außergewöhnlichen Erfahrungen, raushalten. Aber nicht nur das, auch die Außergewöhnlichen Heilungen, zum Beispiel die Homöopathie. Ich habe einmal einen Vortrag in Köthen gehalten, vor homöopathischen Ärzten, die selber fast eine Scheu haben, das Konzept der Lebenskraft noch zu vertreten. Die Lebenskraft ist sozusagen ein Konzept über die Entstehung des Lebens und auch die Entstehung der Arten, das im Anfang des 20. Jahrhunderts noch ganz kontrovers diskutiert worden ist. Hans Driesch trat dafür ein und Henri Bergson. Inzwischen ist die Diskussion so abgewürgt worden, dass diese Konzepte nicht mehr diskutiert werden, aber es sind echte Alternativen, die das Phänomen des Lebens viel besser erfassen als Emergenz-Theorien und neodarwinistische Evolutionstheorien, die, wie Thomas Nagel, der amerikanische Philosoph in seinem 2012 erschienenen „Geist und Kosmos“ formuliert, mit ziemlicher Sicherheit falsch sind, wofür er viel Kritik hat einstecken müssen … Aber er ist ja alt genug, er braucht die Kritik nicht mehr zu scheuen.

 Wenn es nicht nur um materielle Aspekte geht, was ist der Mensch aus Ihrer Sicht?

RUSCHMANN: Der Mensch ist eben ein Wesen, in dem sozusagen verschiedene Seinsebenen sich manifestiert haben. Wenn Sie die Evolution betrachten – die ja stattgefunden hat, nur die Evolutionstheorien sind in Frage zu stellen, nicht die Evolution selbst –, dann sehen Sie: Zuerst kommt die Materie, dann die Pflanzen. Die Pflanzen leben, haben aber noch kein (manifestiertes) Bewusstsein. Und wir Menschen leben auch, wir haben Lebensprozesse. Dann entwickelt sich das weiter, es kommt das Bewusstsein hinzu. Aber wo kommt es her? Dann ist eben die Frage: Ist das nur „bottom up“ zu verstehen, von unten nach oben, oder gibt es auch ein „top down“, von oben nach unten. Und da haben Sie alte Theorien, im Neuplatonismus die Emanation, der Geist, der sich manifestiert und dann die Bewegung von unten nach oben mit ermöglicht, in der indischen Philosophie die Taittirîya-Upanishad, die für meine Frau und mich ein sehr wichtiges Dokument ist, oder bei dem indischen Philosophen Sri Aurobindo mit seiner Philosophie der ineinander wirkenden Seins-Dimensionen.

Es gibt also viele Modelle, in der Philosophie, in der Geistesgeschichte, die sagen: diese Bewegung von unten nach oben, von der wir Menschen sozusagen die derzeit höchste Stufe darstellen, mit unserer Reflexivität und bestimmten Phänomenen und Fähigkeiten, die Tiere nicht in dieser Weise haben … wir sind eine Manifestation von Kräften, die quasi „von oben nach unten“ diese Entwicklung möglich gemacht haben. Dann kommen top down und bottom up zusammen, und dann steht der Mensch in diesem Schnittpunkt. Das ist ein Menschenbild, das von außen nach innen geht, oder von unten nach oben – ich ziehe die Modellierung „von außen nach innen“ sogar vor. Dann können Sie verschiedene Ebenen unterscheiden, bis hin zum Allerinnersten, wofür es unterschiedliche Konzeptionen gibt, aber mit mindestens drei Ebenen müssen wir umgehen im Menschenbild: Wir müssen die Ebene des physischen Körpers, der Lebensprozesse – da setzt zum Beispiel die Homöopathie an –, und des Bewusstseins unterscheiden, und ich würde gerne noch zwei verschiedene Bewusstseinsebenen unterscheiden, wie es Plotin und Platon getan haben … was man im Englischen schön mit mind und spirit unterscheiden kann; wir haben leider im Deutschen nicht so gute Begriffe dafür, wie im Griechischen psychê und nous bzw. pneuma. Und dann kann man noch eine innerste Ebene hinzunehmen, sozusagen der allerinnerste Kern, da kann man vom „göttlichen Funken“ sprechen, wenn man spirituell orientiert ist und Meister Eckhart schätzt.

Dann hat man diese verschiedenen Ebenen, wo es immer tiefer geht, und das macht eigentlich den Menschen aus, und so möchte ich den Menschen sehen.

Hat ein solches Menschenbild auch für Ihre psychotherapeutische Arbeit Bedeutung?

RUSCHMANN: Ja, selbstverständlich. Natürlich muss man jedem Menschen da begegnen, wo er sich gerade befindet. Was oft in Beratung und Psychotherapie sehr deutlich ist: Unser Denken ist sehr kräftig entwickelt und kann viele Schwierigkeiten produzieren, kann zum Beispiel Gefühle hervorbringen, die gar nicht realitätsangemessen sind. Da haben wir im Bereich der menschlichen Fähigkeiten – die Tiere nicht haben – erst einmal mit vielen Probleme zu kämpfen, weil wir uns durch unser Denken Probleme bereiten können, die man dann wieder lösen muss. Aber immer wieder kommt es auch dazu, dass tiefere Fragen gestellt werden, Fragen nach Sinn zum Beispiel.

Wenn man nun von einer Tiefendimension ausgeht und dafür offen ist … also, ich bin immer wieder überrascht, was dann zum Teil von einfachen, gar nicht so gebildeten Menschen, was da an Innenleben, an Innenwelt und Erfahrungen, an tiefen inneren Erfahrungen kommt, wenn man offen ist, und das sind Erfahrungen, die mit einem engen naturalistischen Menschenbild überhaupt nicht zu erfassen sind … Denken Sie nur zum Beispiel im Kontext der Nahtoderfahrungen, dass Menschen sagen: Da habe ich nie drüber gesprochen, denn als ich aus dem Koma aufwachte, hat der Arzt gesagt: „Ja, das sind Phantasien, das kriegen wir schon weg“, oder wo sie für gestört erklärt worden sind …

Also eine Offenheit für diese innere Dimension lässt auch Dinge zutage kommen, die ganz überraschend sind, und wo es dann auch möglich ist, tiefere Sinngebung, Sinnfindung zu begleiten. Aber natürlich kann man das nicht hervorrufen, man kann nur offen sein dafür und dann auch in der Lage, das zu begleiten, wenn es zur Sprache kommt. So verstehe ich auch Psychotherapie: dass es ein Begleiten ist, eine maieutische Arbeit, Hebammenkunst, wie Sokrates gesagt hat. Ich bin ja auch Philosoph, und das ist bei mir immer mit dabei, dieser Tiefenaspekt.

Das erinnert mich ein wenig an Viktor Frankl, der in seiner Logotherapie ja auch auf die Bedeutung der geistigen Dimension des Menschen und auf den Sinn im Leben, auf die Sinnfindung, hingewiesen hat.

RUSCHMANN: Ja, er war auch zu dem Zeitpunkt einer von den wenigen, die überhaupt den Sinnbegriff benutzt haben. Heute ist das ganz anders, es gibt inzwischen eine empirische Sinnforschung in der Psychologie – in Innsbruck ist es Tatjana Schnell, die sich als eine der wenigen im deutschsprachigen Raum damit beschäftigt –, und dadurch ist der Sinnbegriff in der Psychologie, zumindest als Randdisziplin, auch angekommen und hat sich da sehr weit vertieft und ist über das, was Frankl hat entwickeln können, weit hinausgegangen, viel differenzierter geworden. „Sinn“ ist ein ganz wichtiger Begriff.

Sie leiten das Bodensee-Kolleg, wie kam es zu dieser Initiative und was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit hier?

RUSCHMANN: Der Vorläufer ist das Projekt zum Seniorenstudium, die „Innsbrucker Akademie“, wo ich zweimal jährlich Tagungen durchgeführt habe mit verschiedenen Fachleuten, und als das Projekt dann zu Ende war, weil es ein EU-Projekt war und die Förderung zu Ende ging, in dieser Form nicht mehr beibehalten werden konnte – und wir dann nach Bregenz gezogen sind, weil wir eben in Freiburg auch arbeiten, meine Frau und ich –, da war dann der Wunsch, diese Tagungen beizubehalten und dafür einen Rahmen zu finden. Und eben auch die Einzelberatung, Einzel-Psychotherapie – ich bin ja auch zugelassener Psychotherapeut –, dafür haben wir diesen Verein gegründet, als Fortführung der Innsbrucker Arbeit.

Ihr inhaltliches Anliegen ist es auf jeden Fall, Impulse zu geben für eine Erweiterung des Weltbildes, kann man das so sagen?

RUSCHMANN: Richtig, das kann man so sagen. Darum geht es mir, eine Erweiterung des Menschenbildes, des Weltbildes, und eine Vertiefung der Transzendenz-Vorstellungen. Das sind ja die Elemente, sie entsprechen auch den philosophischen Disziplinen, das Menschenbild der Anthropologie, das Weltbild der Ontologie, Metaphysik den Transzendenzvorstellungen, dann kommt noch die Ethik dazu, die Werte, die ja auch eine ganz wichtige Rolle spielen in unserer Arbeit. Da hat eben jeder Mensch Vorstellungen, und da ist die Philosophie eine wichtige Quelle, weil sie die verschiedenen Möglichkeiten und Modelle bereitstellt. Aber jeder Mensch muss da seinen eigenen Weg finden und sein eigenes Welt- und Menschenbild und Gottesbild … auch wenn jemand Atheist ist, hat er natürlich ein Gottesbild, weil er ja eine bestimmte Form von „Gott“ ablehnt … da hat jeder Mensch seine Vorstellungen, und das empfinde ich auch als einen ganz wesentlichen Punkt. Ich habe ein Buch darüber geschrieben – in den Seminaren über die eigene Lebensphilosophie kamen ganz erstaunliche Weltsichten zutage, wo deutlich wurde: Jeder hat eben sein bestimmtes Menschen- und Weltbild oder Gottesbild oder Vorstellungen über Transzendenz. Den Begriff verwende ich lieber, weil er weiter ist als der Gottesbegriff.

Sie haben es gerade selbst erwähnt: 2012 ist ein Buch von Ihnen erschienen, mit dem Titel „Weltanschauungen und Gottesbilder“. Sie wollen damit Impulse dafür geben, die persönliche Weltanschauung zu hinterfragen. Wie kam es zu diesem Buch? Was war der Anlass dafür? Waren es die Erfahrungen aus Gesprächen, Seminaren?

RUSCHMANN: Ja, das waren diese Erfahrungen, ich habe viele Seminare durchgeführt, hier in Bregenz, aber auch an anderen Orten, über die eigene Lebensphilosophie, dann eben mit verschiedenen Aspekten und Themen, ein Thema zum Menschenbild, Weltbild, Gottesbild, Werte, oft waren es vier solche Elemente. Und in diesen Seminaren habe ich erst einen Input gegeben, bestimmte Texte aus der Philosophiegeschichte, östlicher und westlicher – ich habe ja auch Indologie studiert, also ich habe mich auch intensiv mit östlichen Vorstellungen beschäftigt –, und dann eben die Teilnehmer begleitet in der Entfaltung ihrer eigenen Weltsicht. Und diese Arbeit habe ich auf Band aufgenommen und habe die Gespräche dann transkribiert und fand das so wertvolle Dokumente, dass ich in diesem Buch bestimmte Ausschnitte aus diesen Transkripten, also Dokumente von Laienphilosophen sozusagen, damit reingebracht habe und daneben kurze Zitate von Philosophen, und das gibt dann Anschauungsmaterial für diese Konzeption, die ich habe, dass jeder Mensch eine eigene Lebensphilosophie hat. Die mag nur sehr implizit sein – das war eben auch eine Hebammenkunst, eine maieutische Technik, diese Lebensphilosophie zu explizieren. Ich habe manchmal gehört, dass jemand sagte: „Ich bin ja überrascht, was ich da alles an Gedanken und Vorstellungen habe, da habe ich ja nie drüber gesprochen.“ Davon ist ein Teil in diesem Buch zu finden.

Sie haben sich mit Nahtoderfahrungen beschäftigt, auch mit anderen Phänomenen rund um das menschliche Bewusstsein. Sie haben sich als Philosoph mit sehr vielen unterschiedlichen Gottes- und Weltbildern befasst … Was ist denn Ihre persönliche Idee davon, wie es mit uns nach dem Tod weitergeht?

RUSCHMANN: Also zunächst einmal, wovon ich ausgehe, und die Daten weisen darauf hin, dass Bewusstsein nicht an ein funktionierendes Gehirn gebunden ist. Das heißt, es ist sehr wahrscheinlich, dass Bewusstseinstätigkeit auch weitergeht, wenn der klinische Tod eingetreten ist. Die Nahtoderfahrungen zeigen, dass Menschen, die kurze Zeit klinisch tot waren, dann gerade für diese Phase – nachweisbar zum Teil, weil auch Wahrnehmungen im Raum gemacht werden – Bewusstseinstätigkeit haben. Aber dann beginnt natürlich diese „Reise ins Jenseits“, wie man so sagt, die Tunnel-Erfahrung, die Licht-Erfahrung. Und das sind jetzt Erfahrungen von Menschen, die an der Todesgrenze waren, die ja nicht gestorben sind, sondern die wieder zurückgekommen sind. Ich persönlich glaube, dass sie sozusagen diese erste Stufe beschreiben, die Beschreibungen sind ja auch sehr unterschiedlich, das ist wichtig. Sie sind zwar nicht so unterschiedlich, wie manche behaupten, weil sie da alles Mögliche mit hineinpacken, was da nicht hineingehört – wie zum Beispiel Hubert Knoblauch –, aber sie sind tatsächlich unterschiedlich, und sie sind auch ein Stück weit kulturgebunden, es gibt allerdings auch genug kulturübergreifende Elemente.

Also ich persönlich glaube, dass da ein Prozess beginnt, der auch sehr stark vom Reifegrad der Persönlichkeiten abhängt, und über das, was dann sozusagen nach dieser Grenze geschieht, wo dann ja auch meist gesagt wird, sie müssen zurück, was danach geschieht, das ist in vieler Hinsicht für uns nicht wirklich erfassbar, da gibt es Dokumente, auf die ich mich dann eher noch beziehe als auf die von Nahtoderfahrungen, meinetwegen mystische Erfahrungen oder Formulierungen von großen Bewusstseins-Persönlichkeiten wie Aurobindo oder Plotin, die eigentlich über diese geistigen Dimensionen Aussagen gemacht haben, die mir persönlich sehr wichtig sind und die weit über das hinausgehen, was in Nahtoderfahrungen berichtet wird, weil die ja gar nicht diese Bewusstseinstiefe erreichen konnten in dem Sinn.

Ich habe da sozusagen Vorstellungen, ich habe auch ein paar eigene Erfahrungen von Bewusstseinserweiterungen gemacht, die ich auch mit einbeziehe, aber wie das Ganze nun wirklich aussieht, das sind Fragen, die sind für uns Menschen eigentlich etwas zu groß. Es ist auch nicht ganz so wichtig, darüber Aussagen zu machen, wie das genau aussieht, es gibt genug Hinweise aus dem, was vorliegt, für unser Leben jetzt hier, das ist eben diese Frage: Glaubst du an ein Leben vor dem Tod, und mit diesem Hintergrund verändern sich ganz viele Dinge in diesem Leben.

Das ist vielleicht das Eindrücklichste bei den Nahtoderfahrenen, die Veränderungen in ihrem Leben, es sind nicht gleich neue Menschen – dafür kann ich genug persönliche Beispiele geben, mit Menschen, die Nahtoderfahrungen hatten, die sind manchmal auch ganz schön schwierig –, aber sie haben bestimmte Einsichten über die Tiefe des Lebens, sie haben keine Angst mehr vor dem Tod, sie wissen, welche Werte im Vordergrund stehen, dass Beziehungen wichtiger sind als äußere Werte … Also diese ganze Werteveränderung, das ist etwas ganz Zentrales. Dazu muss man keine Nahtoderfahrung gemacht haben, sondern man muss sich nur offen mit diesen Bewusstseinsphänomenen beschäftigen, dann kommt man zu ganz ähnlichen Ergebnissen, und die haben lebensverändernde Kraft.

Ich persönlich bin der Meinung – das vielleicht zum Schluss –, dass der Zustand unserer Welt mit darauf zurückzuführen ist, dass wir eine Verengung der Weltbilder haben: Auf der einen Seite der Naturalismus, und auf der anderen Seite der religiöse Fundamentalismus, die sich beide aber an Dogmatismus überhaupt nicht unterscheiden, die sich gegenseitig bekämpfen, aber eigentlich auch gegenseitig brauchen. Und dieser „Kampf der Weltanschauungen“, den wir heute sehen, der ist nur zu lösen durch eine neue Form der Weltsicht, die offen ist, transzendenzoffen, aber nicht dogmatisch. Da geht die Reise hin, und das hat menschenverändernde und weltverändernde Kraft und Potenz, aber es ist noch ein weiter Weg.

Nahtoderfahrene verändern ihr Leben oft nachhaltig, sie wissen, dass sie bestimmte Aufgaben erfüllen müssen, dass ihr Leben einen Sinn hat. Kann man das verallgemeinern? Könnte man sagen, dass die Qualität des Lebens nach dem Tod davon abhängt, welches Leben wir jetzt führen?

RUSCHMANN: Ich würde es vielleicht ein klein bisschen anders ausdrücken, aber was auf jeden Fall ja deutlich ist, dass zunächst einmal dieser Lebensrückblick ganz sicher auch zu dem Übergang gehört, wenn es dann wirklich kein Zurück mehr gibt. Und alleine das erleben zu müssen, was wir anderen Menschen alles zugefügt haben – jeder Mensch hat andere verletzt –, das ist ja diese stark verändernde Kraft. Also dass wir sozusagen in diesem Lebensrückblick einmal mit all dem konfrontiert sind, was wir an Verletzungen anderen zugefügt haben, auch uns selbst in gewisser Weise, das hat alleine schon eine lebensverändernde Kraft. Da hat ja Kenneth Ring festgestellt, dass die Beschäftigung mit dem Phänomen des Lebensrückblicks selbst eine verändernde Wirkung hat für Menschen, die nie eine Nahtoderfahrung hatten. Und dann – das knüpft an das an, was ich zum Reifegrad gesagt habe: Natürlich ist es ganz unterschiedlich für verschiedene Menschen, und das zeigen meines Erachtens auch die Berichte. Sie zeigen eben auch, dass die Menschen, die diese Nahtoderfahrung haben, einen unterschiedlichen Reifegrad haben. Und deswegen sind die Erfahrungen auch von unterschiedlicher Qualität oder Reife, weil auch das, was man sozusagen in einer geistigen Dimension erlebt, von der eigenen Resonanzmöglichkeit abhängt. Also da ist ganz sicher ein Zusammenhang, dass wir in einer geistigen Dimension nur mit dem Resonanz haben können, was in uns selber entwickelt ist und schwingen kann. Doch wenn wir da den großen Zeugen wie Aurobindo oder Plotin oder sonstigen folgen, ist das ja ein Prozess, der unendlich lange geht und wo die Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten vielleicht weit über das hinausgehen, was dieses doch relativ kurze Leben uns bietet.

Herr Dr. Ruschmann, ich wünsche Ihnen viel Erfolg für alle Ihre weiteren Vorhaben, herzlichen Dank für dieses Gespräch. Alles Gute weiterhin.

Werner Huemer

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