Der Traum von der Unsterblichkeit

Zu den größten Träumen des Menschen gehört der von seiner eigenen Unsterblichkeit, von der Überwindung des Todes und der Vergänglichkeit. Ohne diesen Traum, ohne die Vorstellung eines Lebens im „Jenseits“, gäbe es wahrscheinlich keine Religion. Aber es würde nicht nur der Glaube, sondern auch ein wesentlicher Antrieb fehlen, zu neuem Wissen und Erkenntnissen zu gelangen. Denn selbst die Entwicklung der Naturwissenschaften lässt sich auf eine zentrale Absicht zurückführen: Der Mensch wollte unabhängig werden von den Begrenzungen einer ihm unbegreiflichen Welt, vor allem frei von Krankheit und Tod.

Es gibt Menschen, die ihren Traum von der Unsterblichkeit ganz konkret leben: Sie lassen ihren Körper kryonisieren, also einfrieren. Das Prinzip: Unmittelbar nach dem klinischen Tod wird er auf knapp über Null Grad abgekühlt. Dann wird eine Vitrifikation vorgenommen, das Blut wird durch eine spezielle Kühlflüssigkeit ersetzt. Anschließend wird der Körper in einen Tank mit flüssigem Stickstoff gekippt und bei minus 196° Celsius konserviert – so lange, bis irgendwann in einer fernen Zukunft Technik und Medizin so weit fortgeschritten sind, dass der Körper wiederbelebt und die Krankheiten, die ihn gequält haben, im Handumdrehen geheilt werden können.

Einfrieren für „bessere Zeiten“

Diese Hoffnung wird in den USA bereits von zwei Kryonik-Stiftungen vermittelt. Als Pionier gilt die „Alcor Life Extension Foundation“ in Arizona, eine nicht gewinnorientierte Organisation, bei der schon mehr als 1.000 Menschen vertraglich fürs Einfrieren angemeldet sind. Und viele (ehemalige) Stiftungsmitglieder lagern bereits. Entsprechend wächst die Zahl der Stickstoff-Tanks. In jedem sind vier Körper untergebracht. Preiswerter und platzsparender ist die Lagerung der abgetrennten Köpfe, die „Neurokonservierung“. Auch diese Variante wird – in der Hoffnung auf die künftige Möglichkeit einer Ganzkörper-Transplantation – angeboten: 45 „Neuros“ haben in jedem der doppelwandigen Vakuum-Isoliertanks Platz.

Das Interesse an der Kryonik wächst. Der Traum, auf diese Weise zu einem „ewigen Leben“ zu finden, verführt offenbar immer mehr Menschen dazu, viel Geld zu investieren – oft weit über 100.000 Euro. Sie bezahlen für das Haltbarmachen und Einfrieren, für den Unterhalt des Körpers sowie für die Wiederbelebung in späterer Zukunft. Und sie genießen dabei, unabhängig von den Erfolgsaussichten, das gute Gefühl, aktiv etwas gegen den Tod unternommen zu haben. Die Angst vor dem Sterben wird kleiner.

Zweifellos werden Kryonik-Angebote, die diesem Konzept folgen, nicht auf die USA beschränkt bleiben. Auch in Russland gibt es bereits einen Anbieter, aus Deutschland wurden ebenfalls diesbezügliche Überlegungen bekannt. Allerdings gibt es hierzulande rechtliche Beschränkungen. Eine Vitrifikation darf durchgeführt werden, aber die dauerhafte Lagerung von Leichen – um solche handelt es sich nach Auffassung des Gesetzgebers – ist nicht gestattet.

Den Begriff „Leiche“ hören Kryonik-Befürworter im Zusammenhang mit dem Einfrieren natürlich nicht gern. Der Mensch gilt als Patient, aber nicht als tot. Die „Alcor“-Organisation in Arizona beschreibt auf ihrer Homepage als den Zweck ihrer Tätigkeit, mit Hilfe der „besten verfügbaren Technologie“ das Leben des Menschen „zu bewahren“. Nach dem klinischen Tod müsse „so schnell wie möglich in den Sterbeprozess eingegriffen“ werden. „Alcor“ sieht also ihre Räumlichkeiten nicht als Friedhof – auch wenn manche Kunden darauf bestehen, in den gleichen Tank wie ihre Angehörigen verbracht oder dort gemeinsam mit ihrem Haustier gelagert zu werden.

Die meisten Wissenschaftler lehnen die Kryonik indes als unseriös ab. Ihre Argumente:

• Nach dem klinischen Tod eines Menschen verändert sich das Gehirn innerhalb weniger Minuten. Die dabei entstehenden Schäden sind irreversibel.

• Eine Kryo-Konservierung könnte nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn der lebende Mensch schockgefroren wird. Eine dafür geeignete Technologie gibt es nicht.

• Es sind Einflüsse bekannt, zum Beispiel die natürliche Radioaktivität, die das menschliche Erbgut auch im gefrorenen Zustand nach und nach schädigen. Eine dauerhafte oder sich über Jahrhunderte erstreckende Konservierung eines Körpers ist deshalb nicht möglich.

• Nach der (fiktiven) Wiederbelebung des Menschen würden sein körperlicher Zustand, sein Alter und seine Lebenserwartung bestenfalls den Gegebenheiten vor dem Schockfrieren entsprechen. Es gibt keine Möglichkeit, einen bereits erfolgten Alterungsprozess rückgängig zu machen.

• Es ist nicht zweifelsfrei belegt, dass Bewusstsein allein aus der Gehirntätigkeit resultiert.

Die Pille gegen das Altern

Haken wir die Kryonik also als besonders auffälligen Ausbruch von menschlichem Machbarkeitswahn ab. Zur Unsterblichkeit verhilft das Einfrieren mit Sicherheit nicht.

Doch in der Erforschung des Alterungsprozesses, der letztlich ja zum körperlichen Tod führt, werden erhebliche Anstrengungen unternommen, und es sollte nicht verwundern, wenn die Pharmaindustrie das Altern schon demnächst als Krankheit definiert und mit Pillen gegen dieses „Leiden“ Milliardengeschäfte macht.

Noch ist es freilich nicht soweit. Denn es sind nicht einmal alle wichtigen Details bekannt, die den Alterungsprozess steuern.

Grundsätzlich ist das Altern ja nichts Schlechtes, sondern – im Sinne der Entwicklung – eine Notwendigkeit. Schließlich kommen wir Menschen als weitgehend unselbständige Lebewesen auf die Welt und müssen älter werden, um irgendwann erwachsen zu sein und uns fortpflanzen zu können. Bis zu diesem Punkt wird unser Körper von der Natur auch ausgezeichnet unterstützt. Die physische Leistungsfähigkeit nimmt zu, und sobald seine geistige Eigenpersönlichkeit zum Durchbruch gekommen ist, fühlt ein Jugendlicher sich im Grunde so, als hätte er das „ewige Leben“ für sich gepachtet, als könne ihn nichts und niemand aus der Bahn werfen oder von seinen Zielen abbringen.

Nach diesem Aufblühen allerdings, sobald also, biologisch betrachtet, für die Arterhaltung gesorgt ist, scheint der einzelne Mensch der Natur, was die körperlichen Aspekte anbelangt, ziemlich gleichgültig zu sein. Das „alte Leben“ muss nicht mehr erhalten werden. Der langsame Verfall beginnt. Und er endet ein paar Jahrzehnte später unausweichlich mit dem Tod.

Aber muss der Mensch sich diesem Schicksal fügen? Wenn die genetische Ausstattung unseres Körpers im Wesentlichen nur auf die Arterhaltung ausgerichtet ist, dann erscheint es legitim und naheliegend, dass wir selbst alles tun, um jene Lebensspanne zu verlängern, die von der Natur vernachlässigt wird. Oder?

Mit solchen oder ähnlichen Gedanken im Hinterkopf erforschen Biologen jedenfalls weltweit den Alterungsprozess. Ihr Ziel ist es, weitere Möglichkeiten zu entdecken, die den biologischen Verfall verlangsamen. „Weitere“ deshalb, weil sich eigentlich schon einiges zugunsten des menschlichen Individuums verändert hat. In den letzten 100 Jahren verdoppelte (!) sich in Deutschland die Lebenserwartung. Hygiene und Ernährung sowie eine bessere medizinische Versorgung dürften dafür verantwortlich sein. Aber es sollte eben noch andere Ansatzpunkte geben – wobei es natürlich nicht nur um die Lebensdauer, sondern auch um die Lebensqualität gehen sollte. Das erste Kind mit 50, Ruhestand mit 90, Sterben mit 130 – vielleicht wird das schon in wenigen Generationen normal sein. Möglicherweise wird es dann ja die Pille gegen das Altern bereits geben.

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die Mechanismen, die hinter den körperlichen Verfallsprozessen wirken, durchschaut werden. Warum wir altern und was dabei genau geschieht, ist nämlich bis heute nicht endgültig geklärt. Führen äußere Einflüsse dazu? Gibt es ein genetisches Programm, das den Tod der Körperzellen vorsieht? Oder die zunehmende Beschränkung der Regenerationsfähigkeit? Weshalb reicht diese Fähigkeit zwar bis ins hohe Alter zum Überleben (etwa, wenn Wunden heilen), aber schon viel früher nicht mehr für ein optimales Funktionieren aller Organe?

Will man Naturgegebenheiten lenken, muss man sich deren Gesetzmäßigkeiten erschließen. Aber wo liegt in diesem Fall der gesuchte Schlüssel?

Versuche mit Fadenwürmern, die in Kalifornien (USA) durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass diese Tiere, die üblicherweise nur zwei Wochen alt werden, mit einem veränderten Gen plötzlich doppelt so alt werden können – und das unter wesentlich besseren Umständen. Sie alterten vergleichsweise so, als würde sich ein 90-jähriger Mensch wie ein 45-jähriger bewegen.

Wie sich zeigte, hatten die langlebigen Fadenwürmer einen anderen Hormonhaushalt, weniger Insulin im Blut als die kurzlebigen. Insulin regelt den Prozess der Neubildung von Zellen. Kann man daraus schließen, dass auch wir Menschen bei verändertem Insulinhaushalt langsamer altern? Untersuchungen von Familien, deren Mitglieder besonders alt werden, weisen jedenfalls darauf hin. Und es scheint auch Zusammenhänge zwischen der Ernährung (unter anderem geht es hierbei um den Kohlehydrate- sowie Zuckerkonsum) und der Lebensdauer zu geben.

Für eine weitere Entdeckung, die vor kurzem die Alterungsforschung beflügelte, sorgte ein kleines Süßwassertierchen, „Hydra“ genannt. Erstaunlicherweise, so fanden Biologen heraus, gibt es bei den Hydren offenbar keinen Alterungsprozess. Die Tiere bleiben vital und sterben nicht. Ihr Geheimnis liegt darin, dass außerordentlich viele Zellen Stammzellencharakter haben. Stammzellen können sich immer wieder teilen, aus ihnen können entweder Tochterzellen entstehen, die abermals Stammzellencharakter besitzen, oder auch normale Körperzellen. Bei den Hydren sorgen die Stammzellen dafür, dass sich die Tiere im 30-Tage-Rhythmus komplett erneuern – und damit jung bleiben.

Bei uns Menschen werden die Stammzellen auch im Alter noch aktiv, sobald im Körper irgend etwas repariert werden soll. Dieser Effekt wird medizinisch genutzt. Es gab bereits erfolgreiche Herzoperationen, bei denen Patienten eigens gezüchtete Stammzellen in den Herzmuskel injiziert wurden. Die Organfunktion verbesserte sich dadurch grundlegend.

Interessanterweise fand man jenes Gen – „FoxO“ genannt –, das im Süßwassertierchen „Hydra“ das Altern verhindert, auch im menschlichen Erbgut; es steuert den Energiehaushalt der Zellen. Und es ist, auch das haben Studien erwiesen, in der DNA von Greisen besonders aktiv.

Auf Grund solcher Erkenntnisse könnte die „Pille gegen das Altern“ tatsächlich näherrücken. Wenn es tatsächlich gelingt, die Regenerationsfähigkeit des Körpers zu verbessern und zentrale Probleme des Alterns zu lösen (voran die Demenz-Erkrankungen; etwa ein Drittel der 90-jährigen leidet an einer Demenz), dann könnte damit das menschliche Leben sinnvoll verlängert werden.

Allerdings bliebe der Traum von der Unsterblichkeit auch unerfüllt, wenn wir das Altern um Jahrzehnte hinauszögern könnten und es gelänge, die damit einhergehenden sozialen Fragen zu lösen. Denn das Lebewesen Mensch ist und bleibt, biologisch betrachtet, ein Sterbewesen.

Die Illusion von der „verhinderbaren Katastrophe“

Ob es nun um Abwegiges wie die Kryonik geht oder nur um die Suche nach der Pille gegen das Altern – es ist die Wissenschaft, in die der Mensch des 21. Jahrhunderts seine Hoffnungen setzt, um den alten Traum, die Sterblichkeit zu überwinden, zu verwirklichen. Die Religion und der Glaube an eine unsterbliche Seele spielen demgegenüber nur noch eine untergeordnete Rolle.

Wie kam es zu diesem radikalen Sinneswandel, der sich in den vergangenen Jahrhunderten vollzog? Der Kulturhistorikerin Anna Bergmann zufolge kam er nicht aus heiterem Himmel. In ihrem Buch „Der entseelte Patient“ kommt sie zum Schluss, dass dafür letztlich „die verheerenden Wetter- Hunger- und Seuchenkatastrophen“ ausschlaggebend waren, die im 14. und vor allem auch 17. mehr Opfer als militärische Konflikte forderten. Diese Ereignisse – angefangen von der „Kleinen Eiszeit“ ab Ende des 13. Jahrhunderts bis hin zur Pest im 17. Jahrhundert – erschütterten den Glauben des Menschen nachhaltig. Und sie drängten ihn zum Forschen nach Möglichkeiten, „eine Resistenz gegen die am eigenen Leib durch Krankheit, Altern und vor allem den Tod erfahrene Verwundbarkeit erzeugen zu können.“

Auf dieser Grundlage einer Wechselbeziehung zwischen Natur- und Kulturgeschichte etablierte sich nach und nach das Konzept der Naturbeherrschung. Bergmann: „Das Interesse an einer Enträtselung des als Werk Gottes verstandenen ,Buches der Natur‘ richtete sich gezielt auf eine Suche nach Methoden ihrer menschlichen Manipulierbarkeit, um letztlich eine von Gott unabhängige Sicherheit durch menschliches Handeln gewinnen zu können.“ Der medizinische Fortschritt soll in eine Welt führen, „in der körperliches Leid und menschliche Sterblichkeit in ihre Schranken verwiesen sind, in der wir uns vor dem Tod immer mehr geschützt meinen“.

In unserer modernen Wahrnehmung sei der Tod, meint Anna Bergmann, „zu einem klinisch besiegbaren Phänomen degeneriert“. Der moderne Mensch gehe davon aus, dass die „physiologische Katastrophe“ grundsätzlich „ärztlich verhinderbar“ sein könne.

Die heute weit verbreitete Auffassung, der Kampf gegen den Tod könne mit Hilfe von Wissenschaft und Forschung gewonnen werden, entwickelte sich schrittweise – wobei sich, wie die Kulturhistorikerin formuliert, „seit der Renaissance eine neuartige Allianz zwischen Obrigkeit, Wissenschaft und christlicher Religion“ formierte. Und im Zentrum dieses Bundes tobten durch die Jahrhunderte Kampf und Gewalt.

Töten und opfern, um den Tod zu besiegen

Üblicherweise wird der große geistesgeschichtliche Fortschritt der Menschheit am Beginn der Neuzeit damit beschrieben, dass an die Stelle des blinden Glaubens an religiöse Überlieferungen und Traditionen die „Frage an die Natur“ trat. Das Experiment sollte erweisen, ob eine Theorie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieser Ansatz erscheint uns heute selbstverständlich, vernünftig und sachlich. Wer allerdings dem englischen Staatsmann und Philosophen Francis Bacon (1561–1626) folgt, der als „Vater“ des experimentellen Erkennens gilt, gewinnt einen anderen Eindruck.

Bacons Credo war nämlich definitiv die Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Er wollte sie im Sinne einer inquisitorischen Befragung („inquisition of causes“) zum Sprechen zwingen. Ein Ansatz, der nicht zufällig an die „peinliche Befragung“ – also an die mit „Pein“ (Schmerz) arbeitende Folterung – erinnert, der früher vermeintliche Hexen unterzogen wurden, damit sie „die Wahrheit“ sagen. Francis Bacon war Generalstaatsanwalt des Königs und als solcher auch selbst mit der Hexenverfolgung befasst.

Bei kritischer Betrachtung der Medizingeschichte zeigt sich, dass das Streben nach neuen Erkenntnissen immer von Gewalttätigkeit begleitet wurde. Seit der „Vater der Anatomie“, Andreas Vesal (1514–1564), den Geheimnissen des Lebens mit dem Seziermesser auf den Grund gehen wollte, etablierte sich nachhaltig die Überzeugung, man könne durch chirurgische Eingriffe Krankheit und Tod besiegen – und die dafür nötigen Kenntnisse forderten eben ihre Opfer.

Vesal war der erste, der in der Öffentlichkeit menschliche Leichen und auch lebendige Tiere zergliederte, um Körperfunktionen zu verstehen und verständlich zu machen.

Aber schon davor, im ausgehenden 13. Jahrhundert, als es darum ging, die Ursachen von Seuchen zu ergründen, wurde erstmals das große Tabu gebrochen, einen Körper zu öffnen. Wir können uns heute kaum vorstellen, was das bedeutete. Denn damals war das Denken ja geprägt von der christlichen Überzeugung, jeder Mensch würde am Tag des Jüngsten Gerichts leiblich wieder auferstehen. Die Seele war dieser Auffassung zufolge auf magische Weise auch über den Tod hinaus mit dem verstorbenen Leib verbunden, und eine Zergliederung dieses Leibes musste dramatische Folgen für die Seele haben.

In manchen Fällen war die möglichst vollständige Vernichtung eines Menschen jedoch erwünscht. Deshalb gab es verschärfte Hinrichtungsmethoden für Schwerverbrecher. Deren Körper wurden gezielt zerstückelt, verstümmelt und beispielsweise den Vögeln zum Fraß vorgeworfen. Normalerweise aber galt der Leib eines Toten als unantastbar.

Als später im „Anatomischen Theater“ öffentlich Leichenzergliederungen zelebriert wurden, verwendete man zunächst nur Leichen von Menschen, die kurz davor als Verbrecher hingerichtet worden waren. Diese hatten keine Totenrechte, und um deren seelisches Wohl sorgte sich wohl niemand. Zum Vergnügen der höheren Gesellschaft und der „ehrbaren Bürger“ – das waren Könige, Fürsten, Adelige und Geistliche – führten Anatomen öffentliche Zergliederungs-Spektakel durch. Die Ära dieses offenbar unterhaltsamen Schauspiels erreichte im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt, dauerte aber sogar bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.

Die Strafjustiz, genauer gesagt: der Henker, lieferte somit lange Zeit das „Material“ für die medizinische Grundlagenforschung.

Später wurden neben Exekutierten auch Verstorbene aus ärmeren Schichten öffentlich zergliedert. Wobei die Regel galt: Je tiefer jemand im sozialen Status verankert ist, desto radikaler darf er zerstückelt werden.

Im 18. Jahrhundert schließlich wurde die Tradition, durch Fragmentierungstechniken neue Erkenntnisse zu gewinnen, in den Krankenhäusern fortgesetzt. Anna Bergmann zieht in ihrem Buch „Der entseelte Patient“ überzeugend eine Entwicklungslinie, die vom „Anatomischen Theater“ über die Menschenexperimente in Gefängnissen und Konzentrationslagern bis hin zur modernen Praxis der Transplantationsmedizin führt. Heute wie früher geht es nach ihrer Ansicht um „das Phantasma der Sterblichkeitsüberwindung“: „Die menschliche Sterblichkeit, die Unfassbarkeit des Todes zählen zu den größten Angstquellen und werden daher wahrscheinlich zu Recht […] für den Ursprung der Religionen verantwortlich gemacht. Schließlich haben alle Religionen den Glauben an ein Leben nach dem Tod beziehungsweise an die Unsterblichkeit gemeinsam.“ Im Zuge eines „Verweltlichungsprozesses“ habe die moderne Medizin „im Überwindungsversuch der menschlichen Sterblichkeit“ inzwischen eine Vorreiterrolle eingenommen, die „von keiner christlichen Kirche in Frage gestellt“ werde.

Dabei spiele die „Opferlogik“ nach wie vor eine Rolle: Zugunsten von Fortschritt und Nützlichkeit würden sogar Menschenopfer in Kauf genommen. Bergmann: „In dem zweckrational begründeten Vorgehen der Zergliederung, der Vivisektion von Tieren und des Menschenversuchs liegen Quellen experimenteller Gewalt- und Folterpraktiken, denen durch die hehre Forschungsintention, das Leben von möglichst vielen Menschen zu retten, keine Grenzen gesetzt sind.“

Liegt diese Einstellung auch der heutigen Transplantationsmedizin zugrunde – jener gesellschaftlich anerkannten Praxis, bei der ein (angeblich toter) Mensch für das Leben eines anderen „geopfert“ wird? Und in der intensiv neue Medikamente getestet werden, die Abstoßungsreaktionen vermeiden sollen?

Ein Ausflug in die Geschichte zeigt jedenfalls, dass sich, gefördert durch katastrophale Naturereignisse, die „Unsterblichkeits-Zuständigkeit“ – einst Kirche, jetzt Medizin – über die Jahrhunderte verschoben hat. Ob aber der heutige Ansatz, das ewige Leben mit dem Skalpell zu erzwingen – oder, sachlicher formuliert, den Kampf gegen die Vergänglichkeit mit Hilfe der Apparatemedizin zu führen –, nicht ebenfalls ein Irrweg ist?

Interessanterweise wurde in früherer Zeit der Begriff „Leib“ – abgeleitet von lib = Leben – verwendet, womit dessen Beseelung zum Ausdruck kam. Heute sprechen wir statt dessen vom „Körper“ – abgeleitet von corpus = Leichnam.

Haben uns Anatomie und Chirurgie von der Erkenntnis des Lebens am Ende noch weiter entfernt?

Die „treue“ Angst vor dem Tod

Etwas blieb dem Menschen trotz aller Erkenntnisse und unabhängig von der Entwicklung seines Weltbildes jedenfalls wie ein treuer Begleiter erhalten: die Angst vor dem Tod, vor dem großen Unbekannten, mit dem das persönlich-bewusste Sein beendet wird.

Von dem bedeutenden französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), der selbst in seinem Wissensdrang Tiere zergliederte (und sie letztlich zu seelenlosen, schmerzunempfindlichen Wesen erklärte), aber auch von dem englischen Physiker Sir Isaac Newton (1642–1727) oder dem deutschen Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) ist bekannt, dass sie lange Zeit unter Todesängsten litten. Die Biographien dieser Denker und Forscher beweisen, dass es offenbar keinen keinen verläßlichen intellektuellen Weg gibt, um sie zu überwinden.

Die Angst vor dem Tod: Bei näherer Betrachtung geht es dabei zum einen um die Furcht des Menschen, als Individuum ausgelöscht zu werden, also alles zu verlieren, was als „Ich“ erlebt wird – Bewusstsein, Identität, Erinnerung, Zukunft. Neben dieser Angst vor dem „Nichts“ besteht aber gleichzeitig auch die Angst vor einem „Etwas“, vor etwas Unberechenbarem, Unbekanntem, das sich des Lebens bemächtigt oder in gruseliger Art und Weise aus dem Jenseits in das Diesseits herübergreift.

Der moderne Mensch hat also einerseits Angst davor, dass sein Leben – und damit sein Bewusstsein – mit dem Tod endet, dass es kein Jenseits gibt – und andererseits davor, dass es doch eines geben könnte und dass dieses jenseitige Leben mit dem diesseitigen Leben womöglich in Verbindung steht. Ein interessanter Zwiespalt. „Jenseitige“, die uns aus dem Unsichtbaren heraus beobachten und nachts womöglich durch Decken und Mauern spuken? Diese Art Unsterblichkeit ist doch eher unerwünscht. Wer tot ist, sollte gefälligst auch Ruhe geben!

Auf Grund dieses von Ängsten geschürten Zwiespaltes wollen viele Menschen zwar gerne mehr über den Tod und das Jenseits wissen, aber dann doch auch wieder nicht. Kommt das Thema zur Sprache, ist schnell das bequeme Argument zur Hand: „Was Genaues kann man sowieso nicht wissen.“ Bequem ist diese Haltung deshalb, weil sie weder ein gründliches Nachdenken erfordert, noch dazu anregt, etwas im Leben zu ändern. Lieber ein wenig latente Angst als eine womöglich unangenehme Wahrheit!

Vorbehalte auf dem Prüfstand

Aber was können wir über den Tod wirklich wissen? Die früher weit verbreitete, ganz selbstverständliche Überzeugung, der Mensch verfüge über eine „nicht stoffliche“, immaterielle Seele – und insofern über das Potential für die Überwindung des Todes –, hat heute einen schweren Stand. Das vom Materialismus und Positivismus geprägte moderne Menschenbild geht in der Definition des „Homo sapiens“ nur noch von Gehirnfunktionen aus und lehnt die schon von Plato vertretene Vorstellung von einer unsterblichen Seele ab.

Vor etwa 50 Jahren wurde sozusagen der „Homo cerebralis“ geboren. Seit eindeutige Zusammenhänge zwischen Hirnaktivität und Bewusstseinsfähigkeit dokumentiert werden konnten, definiert sich der wissenschaftlich „aufgeklärte Mensch“ selbst als Ergebnis elektrischer Gehirnströme. Menschsein ist Gehirnsein. Mehr als den physischen Körper gibt es demnach nicht. Deshalb kämpfen Ärzte und Transplantationschirurgen um das „Leben“ ihrer Patienten – und meinen deren Körperfunktionen. Und deshalb trauen Boulevard-Journalisten Kryonik-Instituten zu, „den Tod auszutricksen“ (so eine Online-Schlagzeile der „Welt“ vom März 2014), indem sie Leichen konservieren, bevor deren Verwesung beginnt. Der Körper ist alles, nur um ihn geht es im allgemeinen, wenn heute von Unsterblichkeit die Rede ist.

Mit welchen Argumenten aber werden, sachlich betrachtet, die Vorbehalte gegenüber der traditionellen Annahme einer unsterblichen Seele begründet? Im wesentlichen geht es um drei Grundaussagen. Diese lauten:

1. Es existiert nur das bekannte Raum-Zeit-Gefüge. Irgendwelche überirdischen oder jenseitigen Dimensionen oder Schöpfungsebenen gibt es nicht. Und auch keine wie immer geartete transzendente Wirklichkeit.

2. Es gibt keinen höheren Sinn in unserem Leben, denn die Evolution zeigt, dass sich jegliches Leben auf Erden durch Zufall und nach biologischen Gesetzmäßigkeiten entwickelt hat. Das Altern selbst ist ein Beweis dafür, dass es der Natur lediglich um die Arterhaltung geht.

3. Bewusstsein wird vom Gehirn erzeugt und erlischt deshalb mit dem Gehirn. Auch das „Ich“ und der freie Wille sind Konstrukte des Gehirns und deshalb nach dem Tod nicht mehr vorhanden.

Fazit dieser materialistischen Auffassung: Die Annahme einer unsterblichen Seele kann als „irrational“ bezeichnet werden.

Allerdings erscheinen die drei Hauptargumente, die üblicherweise gegen ein körperunabhängiges Leben der Seele vorgebracht werden, bei näherer Betrachtung ihrerseits als irrational – oder zumindest als fragwürdig. Denn so kühn oder fortschrittlich sie auch erscheinen mögen, es handelt sich dabei nicht um gesichertes Wissen, sondern lediglich um Vermutungen oder Theorien.

Es gibt beispielsweise keinen sachlichen Beweis dafür, dass nur das bekannte Raum-Zeit-Gefüge, also allein die physische Welt, existiert. Astronomische Beobachtungen, aber auch zahlreiche Phänomene im Mikrokosmos, in der Welt der Quanten, haben gezeigt, dass alle derzeitigen wissenschaftlichen Theorien über das „Funktionieren“ der Welt unzulänglich sind. Wir wissen im wesentlichen nur, dass wir erst sehr wenig wissen.

Auch die Annahme einer im wesentlichen zufallsgesteuerten Evolution ist nicht zweifelsfrei bestätigt. Es sind längst noch nicht alle Prinzipien bekannt, nach denen sich das Leben auf Erden entwickelte. Vor allem blieb bislang die Bedeutung des Bewusstseins, das ja ein wesentliches Ergebnis dieser Entwicklung ist, weitgehend unberücksichtigt. Die Sinnhaftigkeit des Lebens ist aber untrennbar mit der Frage verknüpft, was Bewusstsein ist, wie es entsteht und welchen Stellenwert es im Weltgeschehen hat.

Die heute in Wissenschaftskreisen verbreitete Annahme, dass jedes Bewusstsein nur ein Epiphänomen der Gehirntätigkeit ist, ist keineswegs gesichert. Die Hirnforschung hat lediglich Zusammenhänge zwischen dem neuronalen Feuer unter unserer Schädeldecke und dem persönlichen Bewusstsein dokumentiert. Es ist deshalb klar, dass Störungen oder Krankheiten wie zum Beispiel Demenz mit Veränderungen im Gehirn zu tun haben. Aber auf Grund dieser Beobachtungen kann nicht sachlich entschieden werden, ob das Gehirn wirklich der Produzent oder nur der Vermittler von Bewusstsein ist.

Indes legen aktuelle Ergebnisse der Thanatologie (Sterbeforschung) nahe, dass Bewusstsein tatsächlich auch außerhalb des Körpers bestehen kann. Einen wichtigen Hinweis darauf bieten Nahtoderfahrungen, also Erlebnisse, die Menschen an der Schwelle zum Tod machen, und zwar weltweit in allen Kulturkreisen in ähnlicher Form. Diese Erfahrungen galten wissenschaftlich lange Zeit als fragwürdig, weil oft nicht genau rekonstruiert werden konnte, unter welchen Umständen die Betroffenen was erlebten. Inzwischen sind sie so gut untersucht, dass klar geworden ist: Todesnähe-Erfahrungen sind auch dann möglich, wenn tatsächlich alle Gehirnfunktionen ausgefallen sind. Dies lässt im Grunde nur den Schluss zu, dass unser Bewusstsein nicht an den Körper gebunden ist und auch nicht im Gehirn produziert wird.

Die im November 2009 verstorbene Autorin Gerda Lier promovierte an der Universität Frankfurt und befasste sich in ihrer Doktorarbeit ausführlich mit allen wissenschaftlichen und philosophischen Argumenten, die heute für und gegen die Unsterblichkeit der Seele vorgebracht werden – und in der Vergangenheit vorgebracht wurden. Ihre Arbeit – ein „Lebenswerk“ im besten Sinn des Wortes – wurde inzwischen als zweibändiges Buch mit insgesamt mehr als 1.500 Seiten unter dem Titel „Das Unsterblichkeitsproblem“ (V&R unipress, Göttingen) veröffentlicht. Gerda Liers Recherchen schlagen einen großen Bogen von den Natur- zu den Geisteswissenschaften und sind das wohl umfassendste Werk, das in jüngerer Zeit zu diesem Thema publiziert wurde. Die Autorin konnte ihre Arbeit kurz vor ihrem Tod noch fertigstellen, erlebte aber nicht mehr die Veröffentlichung des Buches, in dem sie zu einem klaren Ergebnis gelangt: Alle weltanschaulichen Positionen, die die Existenz einer unsterblichen Seele ablehnen, sind „nach ihren eigenen Kriterien selbst nicht wissenschaftlicher Natur. Es handelt sich bei ihnen um metaphysische Glaubensbekenntnisse oder Meinungsbekundungen, über deren Rationalität und Nützlichkeit unterschiedliche Auffassungen bestehen können. Dementsprechend müssen sie keineswegs allgemein akzeptiert werden.“

Kurzum: Es gibt bis heute kein wirklich schlagendes wissenschaftliches Argument, das gegen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele spricht. Die traditionellen religiösen Vorstellungen mögen zwar unmodern geworden sein – aber nicht etwa, weil irgendwelche Forschungsergebnisse sie widerlegt hätten.

Hat der Mensch das Potential für „ewiges Leben“?

Folgt man spirituellen Überlieferungen und Offenbarungen, so hat jeder Mensch auf Grund seines geistigen Wesenskerns das Potential für Unsterblichkeit. Demnach wären alle Entwicklungen in der physischen Welt, die üblicherweise unter dem Begriff „Evolution des Lebens“ beschrieben werden, nur die Folge des Einwirkens belebender Kräfte. Und der innere Ursprung des Menschen wäre nicht die physische Welt, die dem Werden und Vergehen unterworfen ist, sondern eine unvergängliche geistige. Wobei der Geist, der menschliche Wesenskern, seine Anlagen entwickeln soll, bis er eine reife, bewusste Persönlichkeit geworden ist.

Für diese innere Entwicklung ist ein stetes Wechselspiel zwischen Entscheidungen und Erlebnissen nötig. Der Mensch soll im Erleben seiner persönlichen Möglichkeiten und, damit verbunden, der Folgen seiner Entschlüsse Bewusstsein entwickeln. Entschlussfähigkeit wiederum bedingt den freien Willen. Dieser ermöglicht es, entweder aufbauend und hilfreich oder hemmend und zerstörerisch zu wirken. Letztlich soll sich der freie Wille als reifer Wille erweisen.

Jedoch kennen manche religiöse Überlieferungen auch den Begriff des „geistigen Todes“. Demnach kann das im menschlichen Wesenskern angelegte Potential für die Unsterblichkeit auch ungenutzt bleiben, wenn jemand am Sinn des Lebens, der in der Entwicklung des geistigen Bewusstseins liegt, dumpf vorbeilebt, indem er beispielsweise nur selbstsüchtige Ziele verfolgt und die Möglichkeiten zur Vervollkommnung seiner Persönlichkeit missachtet. Umso wichtiger erscheinen Verhaltensrichtlinien im Sinne der Nächstenliebe. –

Sind wir Menschen also, wie alle Lebewesen, Sterbewesen?

Zweifellos sind biologische Körper sterblich und meist auch recht kurzlebig, ein paar Hydren vielleicht ausgenommen.

Aber auch im 21. Jahrhundert spricht nichts gegen die alte Vorstellung, dass der Mensch nicht nur Körper, sondern in seinem Wesenskern Geist ist. Der Traum vom ewigen Leben, von der Unsterblichkeit könnte demnach wahr werden. Und (nicht nur) für Gläubige bleibt die Lehre von der Nächstenliebe ein guter „Wegbegleiter in die Ewigkeit“.

Stickstofftanks sind für diesen Zweck dagegen ungeeignet.

Ein Beitrag von Werner Huemer

Hinweis: Werner Huemer ist Autor des Buches „Unsterblich?! – Gute Gründe für ein Leben nach dem Tod“

 

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