Vor allem in spirituellen Kreisen wird häufig ein philosophisch anmutender Ausdruck verwendet, mit dem einerseits ein vermeintliches Naturgesetz beschrieben werden soll, andererseits auch ein offenbar nicht idealer Zustand: die Dualität. Sie kennzeichne das Leben in der physischen Welt und könne durch eine entsprechende Bewusstseinsentwicklung überwunden werden. Am Ende stünde die Erkenntnis, dass nicht nur heiß und kalt oder Tag und Nacht, sondern auch gut und böse duale, zusammengehörige Gegenpole sind, die in einer höheren Wirklichkeit eine Einheit bilden. Hält diese Sichtweise tiefer gehenden Betrachtungen Stand?
Was steckt hinter diesem Wort „Dualität“?
Nun, jedenfalls kein Gesetz in wissenschaftlichem Sinn. Es gibt kein Naturgesetz der Zweiheit (von lat. „duo“ = zwei), ohne das unsere Welt nicht „funktionieren“ würde.
Aber, einmal abgesehen von wissenschaftlichen Definitionen: Zeigt sich nicht doch überall eine Dualität? Heiß und kalt, Tag und Nacht, positiv und negativ, Mann und Frau, gut und böse …
Vordergründig mag das so erscheinen. Die nähere Betrachtung führt allerdings zum Ergebnis, dass hier mit einer unscharfen Sammelbezeichnung auch Gegebenheiten und Beobachtungen auf einen gemeinsamen „Nenner“ – eben die sogenannte Dualität – gebracht werden, die bestenfalls indirekt etwas miteinander zu tun haben. Das wiederum führt, gefördert durch einen allgemein unklaren Sprachgebrauch, zu fragwürdigen weltanschaulichen Schlussfolgerungen.
Dualität in der Wahrnehmung
Betrachten wir zunächst das erste der genannten Begriffs-Paare, heiß und kalt. Gibt es ein objektives Heiß oder ein objektives Kalt? Zweifellos nicht. Um „kalt“ zu definieren, ist ein Maßstab nötig. Ich werde -37 Grad Außentemperatur als sehr kalt empfinden, weil meine Körpertemperatur +37 Grad beträgt. Und die auf 100 Grad erhitzte Herdplatte als heiß, weil ich mir daran die Finger verbrennen kann. Der Eisbär dagegen fühlt sich bei -37 Grad, geschützt durch sein Fell, sehr wohl, und eine Steinplatte ist durch 100 Grad überhaupt nicht gefährdet.
Ähnlich ist es mit vielen anderen Eigenschaftswörtern. Sie können als duale Paare erlebt werden, aber sie zeigen ihre Qualitäten immer nur in Bezug auf etwas … auf eine andere Gegebenheit, auf eine Erfahrung oder eine Erwartung: Alt und neu, groß und klein, schön und häßlich – alles ist relativ. Ab wann gilt jemand als alt? Ab welchem Maß als groß? Wodurch als häßlich? Und so weiter …
Es wäre schwer oder unmöglich, solche Eigenschaften ohne einen Maßstab, also objektiv und allgemeingültig, zu definieren. Sie sind von der subjektiven Wahrnehmung, der gesellschaftlichen Beurteilung, also von menschlichen Wertmaßstäben abhängig.
Rhythmen in der Natur
Anders verhält es sich bei dem nächsten der genannten Begriffs-Paare, Tag und Nacht. Es beschreibt – wie beispielsweise auch Sommer und Winter oder Licht und Dunkelheit – Rhythmen der Natur – und somit keine scharf abgegrenzten Gegebenheiten, sondern fließend ineinander übergehende, in der Bewegung stetig wiederkehrende Perioden.
Polarität in der Natur
Und noch einmal anders verhält es sich bei positiv und negativ. Mit diesem Begriffspaar berühren wir tatsächlich auch den Bereich der Naturgesetze, denn in der Elektrizität gibt es den positiven Pol (Pluspol) und den negativen Pol (Minuspol). Die beiden Pole sind nötig, damit Strom fließen kann.
In diesem Fall steckt hinter der sogenannten Dualität – anders als bei den zuvor erwähnten Eigenschaften – eigentlich also die Polarität.
Polarität in der Biologie
Im Bereich der Biologie könnte man im Hinblick auf die beiden Geschlechter in übertragenem Sinn auch von Gegenpolen sprechen, die einander ergänzen: Das Männliche als das aktive, nach außen gerichtete, in diesem Sinn positive „Element“; das Weibliche als das passive, nach innen gerichtete negative.
Klar, diese Begriffszuordnung hat im Gender-Zeitalter einen schweren Stand, aber wenigstens die Ausformung der körperlichen Geschlechtsmerkmale und der „Strom“ zwischen den Polen spricht für dieses gleichnishafte Bild.
Gut und schlecht in der Wahrnehmung
Aber ach! – wäre unsere Sprache doch eindeutiger! –, mit den Begriffen positiv und negativ werden eben auch ganz andere Eigenschaften beschrieben, denn positiv wird gemeinhin mit „gut“ und negativ mit „schlecht“ assoziiert. Somit spricht man einerseits von positiven, erstrebenswerten Eigenschaften und andererseits von den negativen, die man lieber ablegen möchte …
Damit sind wir beim nächsten, vielleicht wichtigsten Punkt angelangt: Zeigt sich in gut und schlecht oder in gut und böse tatsächlich eine Polarität? Eine einander bedingende, ergänzende Zweiheit?
Dieser Gedanke steht beispielsweise mit im Raum, wenn es um die eingangs genannte Überwindung der Dualität geht. Damit verbunden ist beispielsweise die Idealvorstellung, dass die Gegebenheiten des Lebens gar nicht bewertet werden sollten, da gut und schlecht – oder gut und böse – eben nur die notwendigen Gegenpole einer umfassenden Einheit seien.
Sind sie das wirklich?
Jedenfalls führen diesbezügliche Überlegungen zunächst abermals zur Tatsache, dass es schwer oder gar nicht möglich ist, die Eigenschaften „gut“ und „schlecht“ objektiv, also ohne subjektiven Wertmaßstab zu definieren.
Ein leicht bekleideter, kurzsichtiger Wanderer, der in unwegsamem Gelände in einen unerwarteten Regenguss gerät, wird dieses Ereignis wahrscheinlich als eher schlecht empfinden. Durch seine Brille sieht er nichts mehr, er beginnt zu stolpern und erlebt klatschnass, wie ihm kälter wird und sich die Sekunden unangenehm dehnen. Dagegen wird der Bauer in unmittelbarer Entfernung, dessen Äcker in den vergangenen Monaten extremer Trockenheit schon zu verdorren drohten, den gleichen Guss als reinen Segen preisen.
Der Regen an sich ist weder gut noch schlecht, er ist einfach Regen. Erst die subjektive Wahrnehmung, die örtlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen, führen zu einer Beurteilung und Bewertung.
Auch die Rhythmen der Natur werden im alltäglichen Sprachgebrauch oft symbolisch assoziiert – zum Beispiel in dem Sinn, dass Helligkeit gut und Dunkelheit schlecht ist: „Es kam einiges ans Tageslicht (= gut), aber die ganz Wahrheit blieb doch im Dunklen (= schlecht)“.
Hinter solchen Zuordnungen stehen natürlich ebenfalls subjektive Wahrnehmungen, keine objektiven Gegebenheiten. Denn beispielsweise kann Helligkeit auch unangenehm blenden (= schlecht), und Dunkelheit muss nicht als Bedrohung, sondern kann auch als Geborgenheit (= gut) erlebt werden.
Gut und schlecht sind in unserer Wahrnehmung gegensätzliche Begriffe, die aber immer nur in einer bestimmten Situation, unter bestimmten Umständen gültig sind. Mit Polarität hat das nichts zu tun.
Schlecht und böse
In eine andere Richtung führt der Begriff des Bösen.
Böse und schlecht werden im Alltags-Sprachgebrauch zwar oft als Synonyme verwendet („… das kann noch böse enden!“), aber wohl zu Unrecht. Als schlecht können unter bestimmten Umständen die meisten Gegebenheiten erlebt werden – siehe das Regenguss-Beispiel. Böse zu handeln impliziert jedoch einen bewussten Akt der Hemmung oder der Zerstörung.
Definiert man das Gute als das Fördernde, Aufbauende, Erstrebenswerte, dann wäre das Böse tatsächlich der objektive Gegensatz zum Guten; also nicht nur – wie das Wort „schlecht“ – ein Ausdruck der persönlichen Wahrnehmung, sondern ein echter Gegensatz. Aber ist das Böse deshalb auch ein notwendiger Gegensatz, also ein richtiger Gegenpol, ein passendes Gegenteil … also ein ergänzendes Teil für das große Ganze?
An dieser Stelle wird es besonders interessant. Denn um den Stellenwert des Bösen zu definieren, muss zunächst über das Wesen des Guten Einigkeit herrschen. Die Kernfrage dabei lautet: Gibt es es das Gute (im vorhin genannten Sinn einer aufbauenden, fördernden „Bewegungsrichtung“) – und zwar unabhängig von ethisch-moralischen Vorstellungen, sogar unabhängig vom Menschen überhaupt?
Hier scheiden sich die Geister …
Gut und Böse aus materialistischer Sicht
Heute gehen nicht wenige (auch spirituell orientierte) Menschen davon aus, dass das Gute ausschließlich ein Ausdruck ethisch-moralischer Vorstellungen und gesellschaftlicher Vereinbarungen ist. Ähnlich wie bei anderen Begriffspaaren – dick und dünn, groß und klein – wären demnach auch gut und böse nur relative Eigenschaften, vom menschlichen Bewusstsein kreiert. Das Gute wäre keine Qualität an sich, nichts objektiv Bestehendes.
Diese verbreitete Auffassung erhält vom wissenschaftlichen Naturalismus jede Unterstützung. Denn wenn – wie heute üblich – das gesamte Weltgeschehen inklusive der Evolution und des Aufstiegs des Bewusstseins als Zufallsprodukt betrachtet wird, dann gibt es erstens keine grundlegende Bewegung, die als aufbauend und fördernd, also an sich gut definiert werden könnte, und zweitens auch keine naturgegebenen Wertmaßstäbe. Das Gute wäre nur die – letztlich beliebige – Konzeption eines zufällig entstandenen Bewusstseins und damit selbst ein Produkt des Zufalls. Und das Weltgeschehen insgesamt wäre nur ein Wechselspiel des Werdens und Vergehens, wobei am Ende (sofern die Physik für geschlossene Systeme auf das gesamte Universum angewendet werden kann) alles den Wärmetod sterben muss.
Auf die menschliche Ebene heruntergebrochen, lässt sich aus dieser Weltsicht folgern: Ich kann zwar ein guter Mensch zu sein, hilfsbereit, selbstlos, friedlich … aber wenn ich dazu gerade keine Lust hätte und einmal ordentlich den Hammer schwingen wollte, dann würde mir auch nichts passieren. Ich bekomme von keiner Gotteshand, keiner Schöpfungskraft, keinem Naturprinzip eine Rechnung für ein Fehlverhalten präsentiert, weil es kein objektives Fehlverhalten gibt. Ich muss mich allenfalls vor den gesellschaftlich akzeptierten Gesetzen rechtfertigen (oder lernen, sie zu umgehen) – aber an sich bin ich völlig frei und mache mir die Welt widewide wie sie mir gefällt.
Das Gute aus idealistischer Sicht
Im Gegensatz dazu stehen idealistische Betrachtungsweisen, die die Schöpfung nicht nur als Gesamtheit der materiellen Natur verstehen, sondern darüber hinaus dem Bewusstsein einen zentralen Stellenwert einräumen. Demnach ist das gesamte Weltgeschehen nicht dem puren Zufall unterworfen, sondern es folgt einer Entwicklungsrichtung, die sich im Aufstieg des Bewusstseins zeigt.
Anders ausgedrückt: Der Rhythmus des Werdens und Vergehens, den wir überall in der äußeren Welt beobachten können, dient einem Ergebnis; es bleibt „unterm Strich“ immer etwas übrig, nämlich wachsendes Bewusstsein. Und dieser insgesamt aufbauende, sinnerfüllte Lebensstrom, die Tatsache, dass alle Bewegungen in der Schöpfung zu einer Essenz führen, kann als das Gute an sich bezeichnet werden. Es ist eine allumfassende, lebensfördernde Entwicklungsrichtung, die das Werden und Vergehen umfasst, Aktives und Passives, Helligkeit und Dunkelheit, alle Rhythmen der Natur, die Polarität und natürlich auch unsere dualen Wahrnehmungen.
Aber dieses An-sich-Gute, Grundlegende, braucht kein böses Gegenteil, keinen Gegenpol. Es kann gar keinen haben, weil es allumfassend ist.
Das Böse aus idealistischer Sicht
Dennoch gibt es das Böse – im schon genannten Sinn des bewusst gegen das Gute Gerichteten. Allerdings existiert das Böse nicht als notwendiger Gegenpol, sondern nur als Gegenbewegung infolge entsprechender Entscheidungen. Es zeigt in Form von Willensentschlüssen und Handlungen, die bewusst Hemmung oder Zerstörung zum Ziel haben.Wenn das an sich Gute der natürliche Strom des Lebens ist, dann hat der Mensch, bildhaft ausgedrückt, die Möglichkeit, innerhalb dieses Stroms auch gegen die Strömung zu schwimmen und in dieser Gegenbewegung böse zu handeln.
Die Möglichkeit des Gegen-den-Strom-Schwimmens hängt mit dem freien Willen zusammen, ohne den die Entwicklung eines höheren Bewusstseins unmöglich wäre. Denn auch das Erleben der Gegenströmung kann dazu beitragen, die Bewegung des Lebensstroms an sich kennenzulernen. In diesem Sinn dient letztlich alles, selbst das Böse, dem Guten. Möglicherweise hatte Goethe das im Sinn, als er in seiner „Faust“-Dichtung Mephisto sagen ließ:
[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Freier Wille und Verantwortung
Allerdings bewegen wir uns an dieser Stelle auf weltanschaulichem Glatteis. Die Gefahr, Halt und Orientierung zu verlieren, ist groß.
Dass es möglich ist, bewusst gegen den Strom des Lebens zu schwimmen, bedeutet nicht, dass es notwendig ist. Und vor allem ist damit nicht gesagt, dass freie Entscheidungen – wie immer sie aussehen – folgenlos bleiben.
Denn wenn das Weltgeschehen nicht – wie im Materialismus gedacht – sinnlos und zufallsbestimmt ist, sondern in seiner Gesamtheit eben sinnvoll, also entwicklungs- und bewusstseinsfördernd wirkt, dann bildet dieses objektiv Gute auch den gültigen Maßstab für menschliche Willensentschlüsse.
Dem Pippi-Langstrumpf-Konzept sind demnach Grenzen gesetzt, der Mensch ist nicht absolut frei. Er kann zwar walten und gestalten, widewide wie es ihm gefällt, aber niemand kann die Richtung des Lebensstroms verändern oder außerhalb von ihm schwimmen, weil es kein Außerhalb gibt. Jeder Entschluss, jede Handlung steht in einer Wechselwirkung mit diesem allumfassenden Strom.
Der freie Wille geht deshalb einher mit persönlicher Verantwortung. Und zwar in dem fast schon mechanisch zu nennenden Sinn, dass eine Antwort des Lebensstroms folgt – eine den Entschlüssen und Handlungen des Menschen genau entsprechende fördernde oder eben – infolge einer gegen den Strom gerichteten Bewegung – hemmende Rückwirkung.
Wenn ein Übeltäter wutentbrannt auf sein Opfer einschlägt, dann sind aus materialistischer Sicht die körperlichen Wunden die einzigen relevanten Wechselwirkungen, denn es gibt ja nur die physische Welt. Der Täter hat also nichts weiter zu befürchten, außer vielleicht den eifrig ermittelnden Kriminalkommissar.
Aus idealistischer Sicht jedoch löst jede Tat, eigentlich schon der bewusste Entschluss dazu, automatisch eine Antwort des Lebensstromes aus, also weit über das Physische hinaus gehende, aber zunächst verborgene Folgen. Sie zeigen sich im künftigen persönlichen Schicksal des Täters.
Bis zu einem gewissen Grad (denn niemand ist eine Insel; es spielen immer auch die Entschlüsse anderer Menschen mit eine Rolle) ist also jeder selbst verantwortlich für die Rahmenbedingungen seines Lebens; und er ist vollständig selbst dafür verantwortlich, was er aus diesen Bedingungen macht, ob und wie er sie nützt. Er ist – wie es das Karma-Prinzip lehrt – nicht Opfer, sondern Täter seines Schicksals.
Dualität – ein Fazit
Dualität – das Thema erscheint zunächst einfach und klar, erweist sich aber bei näherer Betrachtung als ziemlich vielschichtig. Zusammenfassend kann gesagt werden:
• Die meisten Begriffspaare, die gemeinhin mit Dualität oder mit einem sogenannten Dualitätsprinzip assoziiert werden, erscheinen erst durch unsere Wahrnehmung, unsere Wertmaßstäbe und unseren Sprachgebrauch als dual oder gegensätzlich. Sie sind Produkte des menschlichen Bewusstseins, Phänomene der Wahrnehmung.
• Es ist wichtig, klar zwischen Gegensatz und (ergänzendem, notwendigem) Gegenpol zu unterscheiden.
• Im Naturgeschehen zeigen sich Polaritäten und Rhythmen. Dualität könnte demnach als (allerdings sehr unscharfer) Überbegriff für Wahrnehmungsphänomene, Polarität und Rhythmen betrachtet werden.
• Unter den als dual beschriebenen Eigenschaften nehmen gut und böse eine Sonderstellung ein.
• Das objektiv Gute ist aus idealistischer Sicht nicht nur eine ethisch-moralische Definition, sondern eine grundlegende Qualität im gesamten Weltgeschehen, das aufbauend zur Bewusstseinsbildung und -entwicklung führt. Es umfasst das Werden und Vergehen sowie die Rhythmen und Polaritäten der Natur. Daher ist es selbst weder dual, noch Teil einer Polarität. Das objektiv Gute hat keinen Gegenpol.
• An diesem Guten, Lebensfördernden, richtet sich – trotz seiner Freiheit im Entschluss – auch der menschliche Wille. Er steht unentrinnbar in einer Wechselwirkung mit diesem Lebensprinzip, wodurch sich die Qualität seines Schicksals gestaltet.
Das Überwinden der Dualität
Worum handelt es sich also, wenn spirituelle Coaches, Lehrer oder Konzepte von einem Überwinden der Dualität sprechen?
Zunächst darf unterstellt werden, dass es dabei nicht um ein einfach aus der Luft gegriffenes Konzept geht, sondern um tatsächlich erlebbare Wirklichkeit. Nicht nur spirituelle Übungen können dazu führen; auch zahllose Nahtoderfahrene berichten vom Zustand eines erweiterten Bewusstseins, in dem sich Gegensätze auflösen.
Sie erzählen sehr glaubwürdig, eine Einheit der bedingungslosen Liebe, der Freiheit und der absoluten Geborgenheit erfahren zu haben, eine innige Verbundenheit mit der Schöpfung – jenseits irdischer Raum- und Zeitbegriffe. Gesellschaftsübliche Bewertungen oder religiöse Konzepte von Schuld und Erlösung wurden dabei weitgehend bedeutungslos, indes führte sie das Erleben zur Überzeugung von einem tiefen Sinn, der hinter allem liegt, von einer weisen Führung und einem allumfassenden Wissen, das die Welt durchwirkt und dem sie bewusst verbunden waren.
Solche und ähnliche Erlebnisse sind es, die als Überwindung der Dualität beschrieben (und manchmal auch religiös interpretiert) werden.
Es liegt auf der Hand, dass all diese Erfahrungen letztlich nichts anderes beschreiben als das Bewusstwerden des objektiv Guten. Gelöst vom einengenden und immer vornehmlich ich-orientierten Alltagsbewusstsein, kann der Menschen den allumfassenden Strom des Lebens erfahren – als Liebe, als Geborgenheit, als Einheit … als das Gute an sich. Er kann in ihn eintauchen und eins mit ihm sein, jenseits verstandesmäßiger Beurteilungen und irdischer Begrenzungen, jenseits von Vergangenheit und Zukunft, jenseits dualer Wahrnehmungen.
Es ist nur natürlich, wenn Nahtoderfahrene aus dem Erleben dieses aufbauenden, fördernden Bewusstseins-Urgrundes eine verschärfte Empfindung für die Möglichkeiten und Aufgaben im Leben entwickeln, ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein und ein ausgeprägt eigenständiges Urteilsvermögen. Die daraus resultierenden Entscheidungen mögen dann, von außen besehen, mitunter unkonventionell erscheinen, denn die eigene Intuition, die eigene Empfindung, die die Verbundenheit mit dem natürlichen Lebensstrom spürbar werden lässt, wiegt schwerer als gesellschaftliche Konventionen, Lehren oder Verhaltensregeln.
Mit welchen Worten dieses Erleben beschrieben wird, ist eigentlich zweitrangig.
Die Grenzen der Sprache
Aber – nochmal ach! – die Sprache führt eben auch ein Eigenleben. Worte können radikal missverstanden oder falsch interpretiert werden. Das geschieht umso leichter, je unklarer und mehrdeutiger sie sind. Ein Ausdruck wie Dualität, der als umfassende Gesetzmäßigkeit gehandelt wird, sich bei genauerer Betrachtung aber als schwammiger Überbegriff entpuppt, kann natürlich besonders leicht Vorstellungen oder vermeintliche Erkenntnisse auslösen, die mit den eigentlichen Zusammenhängen nichts mehr zu tun haben. In der „Überwindung der Dualität“ könnte beispielsweise sogar der weltanschauliche Freibrief dafür gesehen werden, Mitmenschen rücksichtslos auszunützen, weil gut und böse eh zum großen Ganzen gehören und am Ende alles sowieso nicht so wichtig ist …Eine zentrale These des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) lautete: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Er empfahl, nur darüber zu reden, „was sich klar sagen lässt“. Wovon man nicht reden könne, weil es sich eben nicht klar sagen lasse, „darüber muss man schweigen“.
Streng genommen würde dies bedeuten, dass wir bestenfalls über all das sinnvoll sprechen können, worüber unter Menschen auf Grund ihrer sinnlichen Erfahrungen Einigkeit und Klarheit herrscht. Sobald es um Fragen der Innenwelt geht, um das persönliche Erleben, um Begriffe wie „Gott“, „Geist“ oder „Seele“, wird es schwierig. Denn wir nutzen unsere Sprache dann zunehmend gleichnishaft. Die sinnlich erlebbare Dunkelheit wird beispielsweise mit einem „dunklen“ Seelenzustand assoziiert, das Licht der Sonne mit dem „Licht“ der Erkenntnis, der Aufstieg zum Berggipfel mit innerem „Aufstieg“ und so weiter. Aber solche Gleichnisse sind eben nicht zwangsläufig stimmig, weil die Welt des bewussten Erlebens viel umfassender und widerspruchsfreier ist als das verstandesmäßige Festschreiben von Wahrnehmungen in der physischen Wirklichkeit.
Außerdem sind wir im Alltag an einen eher großzügigen Umgang mit Sprache gewohnt und verwenden oft Begriffe als Synonyme, die eigentlich Unterschiedliches zum Ausdruck bringen: Positiv und gut; schlecht und böse; Geist und Seele; Dunkelheit und Finsternis und und und …
Polarität und Dualität sind in bester schlechter Gesellschaft.
Nach meiner Erfahrung liegt im Bemühen, Sprache exakter zu verwenden und schwammige Pauschalbegriffe zu vermeiden, ein Weg. Er führt zu mehr Klarheit, vergrößert das Potential der Sprache – und damit wohl auch die Grenzen der eigenen Welt, der eigenen Erkenntnisfähigkeit.
Es lohnt ihn zu gehen.
Ein Beitrag von Werner Huemer