Ist das Sterben ein „Gehen ins Licht“? Welche Bedeutung haben Nahtoderfahrungen? Und welche Bedeutung haben die sogenannten negativen Nahtoderfahrungen? Joachim Nicolay, Autor des neuen Buches „Ein Gehen ins Licht“, bietet im Folgenden eine Zusammenfassung zu diesen und anderen Fragen rund um den Tod.
„Der Tod verbirgt kein Geheimnis“, hat der Soziologe und Philosoph Norbert Elias einmal geschrieben. „Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen.“ Er ist ein gleichermaßen unvermeidliches wie triviales Ereignis. Eine solche Sicht des Todes erscheint evident, orientiert sie sich doch an dem, was offensichtlich ist: dem Zerfall des Körpers und dem Ende aller Lebensfunktionen.
Gesellschaftliche Strömungen bestärken uns in der Auffassung, dass mit dem Tod das definitive Ende unserer Existenz erreicht ist. Für einen Glauben an ein Weiterleben lassen sie keinen Raum. So besagen etwa neurobiologische Annahmen, dass der Glaube an eine unsterbliche Seele mit unserem heutigen medizinischen und neurobiologischen Wissen nicht vereinbar sei. Hirn und Geist sind demnach „unterscheidbar, aber nicht voneinander trennbar“, wie der Neuropsychologe Christian Hoppe schreibt. Es sei, meint er, wie beim Licht: „Licht in einem Raum ist offensichtlich nicht dasselbe wie ein glühender Wolframfaden in einer Glühbirne. Aber es wird sofort dunkel, wenn der Wolframfaden nicht mehr glüht!“ (22,32) Aus dieser Sicht ist der Tod so banal wie das Bild des Menschen insgesamt: kein Geheimnis, das Hirnströme und Hirnfunktionen transzendieren würde.
Menschen setzen ihre Hoffnungen in Nahtoderfahrungen, weil sie eine andere, den Tod überschreitende Perspektive anzubieten scheinen. Aber sind diese Hoffnungen berechtigt? Kritiker wenden ein, dass die Menschen auch bei einem Nahtoderlebnis die Todesschwelle nicht überschritten haben.
Man darf an Nahtoderfahrungen keine falschen Erwartungen richten! Es sind keine Todeserfahrungen. Eher müsste man von Grenzerlebnissen sprechen. Im allgemeinen ist den Betroffenen durchaus bewusst, dass ihre Erfahrung ihnen kein gesichertes Wissen über das, was nach dem Tod geschieht, vermittelt hat. Wohl aber sind sie überzeugt, dass sie gewissermaßen einen Blick in das „gelobte Land“ werfen durften und einen Vorgeschmack bekommen haben von dem, was nach dem Tod auf sie warten könnte. Für sie ist ihr Erlebnis immer auch ein Modell des Geschehens im Tode.
Den Bildern und Vorstellungen, die in Nahtoderfahrungen vom Tod und dem, was danach kommt, entworfen werden, will ich in diesem Beitrag nachgehen. Dabei stütze ich mich auf ein hermeneutisches, an ausführlichen Textvergleichen orientiertes Vorgehen.
I. Der Tod als Übergang in eine andere Existenzform
Aus einer am körperlichen Geschehen orientierten Sicht ist der Tod der Endpunkt der Auflösung, des definitiven Zerfalls, Inbegriff des Nicht-mehr-Seins. In Nahtoderfahrungen entsteht ein anderes Bild. Es ergänzt gewissermaßen die rein physische Sicht der Dinge, fügt ihr ein fehlendes Stück hinzu. Nahtoderfahrenen erscheint der Tod als „Abschluss einer Daseinsform und Beginn einer neuen Daseinsform, als ein Endpunkt und gleichzeitig ein Anfang“ (Ludwanowski). Der physische Tod steht nun in einem neuen, veränderten Kontext. Er ist nicht mehr Ende, sondern Übergang.
Die außerkörperlichen Erfahrungen werden zum Modell für diesen Übergang. Sie liefern die Folie für eine veränderte Vorstellung dessen, was unmittelbar im Tod geschieht. Schauen wir uns an, was das für unser Bild vom Tod bedeuten könnte!
Die außerkörperliche Erfahrung beginnt mit dem Verlassen des Körpers. Aber was ist es, was den Körper verlässt – die Seele? Manche Nahtoderfahrene weisen diesen Begriff zurück, weil er ihnen zu vage und unbestimmt erscheint. „Es war ein Gefühl, als würde die Substanz von mir aus mir raus gezogen, nicht in dem Sinne, dass die Hülle zurück bleibt und die Seele raus geht. Dieser Vorstellung entsprach es nicht. Vielmehr alles, was ich bin, was wesentlich ist an mir, das wurde raus gezogen.“ (Anita H.) Es ist mit anderen Worten das, was wir normalerweise mit „Persönlichkeit“ umschreiben würden, was den Aussagen Betroffener zur Folge in die andere Existenzweise mit hinübergenommen wird.
Bemerkenswert ist auch, dass die Menschen oft davon sprechen, auch in dieser außerkörperlichen Existenzweise noch eine Form von Leiblichkeit wahrgenommen zu haben. Nur war es ein anderer, feinerer Leib, in dem sie sich befanden, ein „spiritueller“ Leib, wie Moody formulierte (50).
Wenn außerkörperliche Erfahrungen wirklich den Prozess vorweg nähmen, der sich im Sterben abspielt, dann müssten wir uns die Situation des Verstorbenen unmittelbar nach dem Tod in der Art vorstellen, wie Nahtoderfahrene meist ihre außerkörperlichen Erfahrungen beschreiben:
- Der Tod würde mit einer überraschenden, ja paradoxen Erfahrung beginnen. Der Verstorbene würde den toten Körper und die weinenden Angehörigen sehen, um gleichzeitig festzustellen, dass er noch lebt – auch ohne seinen physischen Körper.
- Der Verstorbene wäre fähig, seine Umgebung wahrzunehmen, ohne selbst wahrgenommen zu werden.
- Er wäre erfüllt von einem Gefühl großer Gelassenheit und tiefen Friedens.
- Gegenüber dem, was er zurücklässt – den toten Körper eingeschlossen –, würde er bereits eine gewisse Distanz empfinden.
- Er würde offen und erwartungsvoll den neuen Ereignissen entgegensehen, die sich ankündigen.
Im Prinzip wäre auch vorstellbar, dass der Verstorbene sich – zumindest noch eine Weile –in seiner gewohnten Umgebung aufhielte, so wie es in manchen Religionen angenommen wird. In Nahtoderfahrungen ist jedoch die Phase, in der eine Person außerkörperlich noch in ihrem Umfeld anwesend ist, meist nur ein kurzes Durchgangsstadium. Die Menschen interessieren sich im Grunde schon nicht mehr für das, was um sie herum geschieht. Neue Ereignisse beanspruchen ihre Aufmerksamkeit, wenn ihre Jenseitsreise voranschreitet und sie zum Beispiel einem Licht entgegen streben, das sie zu erwarten scheint.
II. Die Attraktivität des Todes
Ein Zustand der Vollkommenheit
Der Tod ist ein Übergang. Wohin er führt, das erfahren die Menschen, wenn sie ihre Jenseitsreise fortsetzen und in die Welt des Lichtes, in wunderbare Gärten und paradiesische Landschaften, gelangen. Dort erleben sie ein unbeschreibliches Glück und tiefen Frieden. Nahtoderfahrene versichern, selbst die glücklichsten Augenblicke im realen Leben seien mit diesem Zustand nicht zu vergleichen. (1,36) Ihr Aufenthalt in den jenseitigen Regionen erinnert sie an den „Garten Eden“ (11,96). Sie fühlen sich in den „Himmel“ versetzt (13,48) oder meinen, „vor den Gefilden der Seligen“ zu stehen (1,40).
Nahtoderfahrene sind sich bewusst, dass sie diesen Gehalt ihres Erlebnisses Außenstehenden nur schwer vermitteln können. Don Piper, ein Pfarrer, schreibt: „Es ist ein wenig frustrierend, beschreiben zu wollen, wie der Himmel tatsächlich war. Ich finde einfach keine geeigneten Worte, die auch nur annähernd ausdrücken könnten, wie es dort aussah, was ich hörte und wie es sich anfühlte, dort zu sein. Es war einfach vollkommen.“ (16,34)
Was macht die Vollkommenheit dieser Orte aus? Allein an den äußeren Aspekten – der Schönheit der Landschaften und Gärten, den herrlichen Farben usw. – kann es nicht liegen. Hier entsprechen die Beschreibungen in Vielem dem, was uns von der Erde vertraut ist. Auch personenspezifische Merkmale sind nicht zu übersehen. Der wahre Gehalt der Erlebnisse liegt tiefer.
Zum vollkommenen Glück, das die Menschen hier erleben, trägt ein Aspekt bei, der sich erst bei einem Vergleich vieler Berichte erschließt. Er zeigt, dass der Aufenthalt in den paradiesischen Landschaften mit einer Erfahrung der Einheit einhergeht. Sie lässt sich schwer in Worte fassen; denn unter Alltagsbedingungen ist unser Zugang zur Welt eher von einem Bewusstsein des Getrenntseins bestimmt. Zwischen der Natur auf der einen Seite und dem Erlebenden auf der anderen Seite bleibt immer eine Trennung gewahrt.
Der Aufenthalt in den himmlischen Landschaften dagegen beglückt die Menschen mit einer Erfahrung des Einsseins mit der Schöpfung. In dieser Wirklichkeit existiert keine Trennung mehr. Ein gemeinsames Band verbindet alle und alles miteinander. „Alles strömt Liebe aus – Sie ist eine spürbare Essenz. Sie fließt durch mich, und ich bin eins mit allem, was existiert.“ (4,4)
In ihrer Einheit ist die Schöpfung transparent für die Gegenwart Gottes. Seine Präsenz ist auf Schritt und Tritt spürbar. „Ich fühlte Gott in der Pflanze, in mir – fühlte, wie Seine Liebe in mich – in uns strömte. Wir waren alle eins.“ (7,97)
Hier zeigt sich: Der „Himmel“, wie Nahtoderfahrene ihn erleben, ist mehr als nur eine Projektion irdischer Verhältnisse ins Perfekte und Vollkommene. Die Schilderungen zeigen, dass man nichts von dem Glück und der Vollkommenheit, die die Menschen hier erleben, begreift, solange man den Einzelnen isoliert betrachtet. Dieses Glück ist vielmehr an den Kontext einer Einheitserfahrung gebunden, bei der sich der Einzelne in das Ganze der Schöpfung eingebunden erfährt.
Zur Vollkommenheit ihrer Erfahrung trägt bei, dass die Menschen in dieser anderen Wirklichkeit auf Bedingungen treffen, die Prozesse der Wiederherstellung und Heilung auszulösen scheinen. Eine Atmosphäre von Liebe und unbedingter Annahme ermöglicht es ihnen, ihre Ganzheit und Integrität wiederzuerlangen.
Einen Prozess der Wiederherstellung beschreibt der folgende Text: „Im Tunnel erlebte ich eine totale Veränderung, als das Licht mich berührte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen außerordentlich langen und schwierigen Weg hinter mich gebracht. Ich fühlte mich emotional sehr erschöpft und wegen der schweren Zeiten, die ich hatte durchmachen müssen, von Unmut erfüllt. Als diese überwältigende, bedingungslose Liebe über mich kam und mich durchdrang, wurde jedes Atom meiner Seele im Licht dieser Liebe gebadet und verändert. All meine Blessuren und bösen Erinnerungen verschwanden augenblicklich. Nichts davon spielte mehr eine Rolle – nur noch diese Liebe, die ich empfing … Später bemerkte ich, wie sehr diese Begegnung mich verändert hatte, und da verstand ich die biblische Aussage ‚wiedergeboren im Geiste‘, denn genau das war es, was von dieser Quelle ‚ewigen Lichtes‘ ausgegangen war. Ich fühlte mich als vollkommen neuer Mensch …“ (18,221)
Wenn die Menschen bedingungslose Annahme und Liebe erfahren, erleben sie sich in einer Ganzheit und Unversehrtheit, wie das unter den Gegebenheiten des Alltagslebens wohl nicht möglich ist. Die Beschreibungen dieses Zustandes gipfeln in der Aussage, man habe sich nicht etwa nur „perfekt gefühlt“: „Ich war perfekt“! (18, 73)
Es ist für Außenstehende schwer vorstellbar, dass es jenseits aller menschlichen Unzulänglichkeiten und Fehler eine Unversehrtheit geben könnte, die von allen irdisch-menschlichen Begrenztheiten nicht tangiert wird. Aber genau das besagen diese Erfahrungen. Wir mögen uns in diesem Leben aus vielerlei Gründen beeinträchtigt, verletzt, beschädigt fühlen. Im Lichte bedingungsloser Liebe werden wir unsere Unversehrtheit und Ganzheit wieder finden.
Ein Wiedersehen mit Verstorbenen
In den jenseitigen Regionen treffen Menschen verstorbene Freunde und Angehörige. Auch diese Begegnungen sind vom Empfinden einer allumfassenden Einheit und Verbundenheit geprägt. Nur wenn man diesen Hintergrund einer Einheitserfahrung sieht, kann man die besondere Qualität nachvollziehen, die in vielen Schilderungen spürbar ist.
Wenn das Trennende keine Rolle mehr spielt, dann ist eine Nähe und Tiefe der Begegnung möglich, wie wir sie sonst nicht kennen. „Das war kein Herantasten oder Small Talk, sondern es war ein so inniges Gespräch, wie es hier auf der Erde höchstens in ganz intimen Beziehungen in seltenen Augenblicken vorkommt.“ (23,12) Don Piper schreibt: „Ich fühlte mich geliebt, wie nie zuvor in meinem Leben. Sie sprachen es nicht aus, dass sie mich liebten. Ich erinnere mich noch nicht einmal mehr daran, was sie genau sagten, doch in dem Moment, da sie mich anschauten, wusste ich, was die Bibel mit vollkommener Liebe meint. Alle, die mich dort umringten, strahlten diese aus.“ (16,28)
Auch im Kontext dieser Berichte über Begegnungen mit Verstorbenen ist von einer Wiederherstellung ursprünglicher Ganzheit die Rede. Den Verstorbenen, stellen die Menschen fest, geht es offensichtlich gut. Sie wirken glücklich. „Es waren sehr viele, und ich hätte nie geglaubt, dass irgendjemand derart glücklich sein konnte, wie sie es ganz offensichtlich waren. In ihren Gesichtern spiegelte sich eine entspannte Freude, wie ich sie auf der Erde nie gesehen hatte. Sie alle waren von einer strahlenden Lebendigkeit erfüllt.“ (16,24) Menschen, die zu Lebzeiten behindert waren oder zum Lebensende von ihrer Krankheit gezeichnet waren, werden als gesund und heil erlebt.
Für die Betroffenen sind die Begegnungen mit Verstorbenen, auch wenn sie nur von kurzer Dauer sein mögen, Ausdruck einer Verbundenheit, die über den Tod hinausreicht. Sie werden als Bestätigung dafür empfunden, dass die Liebe den Tod überdauert. Die Erfahrungen widersprechen damit sozialbiologischen Auffassungen, die in der Liebe letztlich nur einen Trieb sehen, der für die Erhaltung der Art und die Regelung des menschlichen Zusammenlebens wichtig ist. Diese evolutionstheoretische Sicht spricht der Liebe jede metaphysische Dimension und jede letzte Bedeutung ab. Mit dem Tod läuft die emotionale Bindung gewissermaßen ins Leere, da die Person, auf die sie sich bezogen hat, nicht mehr existiert. Der Tod wäre, so betrachtet, das definitive Scheitern unserer Beziehungen. Nahtoderfahrungen bezeugen eine andere Wahrheit. Die Begegnung mit verstorbenen Angehörigen und Freunden überzeugt die Betroffenen davon, dass die Verbundenheit nicht mit dem Tod endet: „Es gibt keinen Tod, und die Liebe endet niemals.“ (18,301)
Ist das der Himmel?
Wir haben gesehen, dass Betroffene ihre außerkörperlichen Erfahrungen als ein Modell für das sehen, was unmittelbar im Tod geschieht. Auch im weiteren Fortgang ihrer Erfahrung bilden die Erlebnisse die Folie für die Vorstellungen, die sich die Menschen vom Weiterleben nach dem Tod machen. So begründet der Aufenthalt in den paradiesischen Landschaften Erwartungen eines jenseitigen Glückes.
Das Bild zukünftiger Vollendung, das hierbei entsteht, gleicht einem wiederhergestellten Paradies:
- Wir werden in eine Welt des vollkommenen Glücks, des Friedens, der Geborgenheit eingehen.
- Was versehrt war, wird wiederhergestellt. Alle Wunden werden geheilt, Behinderungen verschwinden.
- Wir werden mit lange vermissten Menschen wiedervereint sein.
- In dieser Welt sind alle von einem Bewusstsein der Verbundenheit und Liebe erfüllt.
- Die ganze Schöpfung ist von einem Bewusstsein der Gegenwart Gottes durchdrungen.
Die Verheißung, die in den Erlebnissen liegt, fasste ein Nahtoderfahrener in die Worte: „Ich habe eine Botschaft für andere, die ein normales Erdenleben führen … Unsere Identität wird fortbestehen –auf eine höhere Art und Weise. Sie werden Ihre Freunde nicht verlieren. Sie werden eine Schönheit, einen Frieden und eine Liebe kennenlernen, und das liebevolle Licht, das Sie umgibt und erfüllt, ist Gott.“ (18,214)
Wer in einem Nahtoderlebnis eine Ahnung von dem bekommen hat, was ihn nach dem Tod erwarten könnte, dem kann der Tod verlockend erscheinen. Eine junger Mann empfand schon während seines Erlebnisses den Tod als „sehr, sehr verführerisch, da er uns dieses starke Licht, diese Wärme und das Gefühl unendlichen Glückes vermittelt“ (1,37).
Die Attraktivität, die der Tod für Nahtoderfahrene haben kann, taucht in den Berichten immer wieder auf. Jemand anders meinte: „Wenn der Tod auch nur annähernd dem gleichkommt, was ich erfahren habe, dann muss er das Schönste sein, auf das man sich freuen kann, das absolut Schönste … Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod! Und es ist schöner als alles, was wir uns erträumen können.“ (18,276)
III Kann der Tod auch Schrecken bedeuten?
Es gab Zeiten, in denen die Menschen fürchteten, nach dem Sterben einem strengen Richter gegenüber zu stehen. Mit dem Tod nahte der Augenblick, der über eine ganze Ewigkeit entscheiden würde. Diese Vorstellungen machten Angst. Sie waren aber auch Anlass, der Vorbereitung auf den Tod große Bedeutung beizumessen.
Die Vorstellung, dass im Tod eine Entscheidung über unser weiteres Schicksal fallen könnte, ist uns heute fremd. Ebenso fern liegt uns der Gedanke, von der Art, wie wir leben, könne auch abhängen, wie es nach dem Tod weitergeht.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würden Nahtoderfahrungen uns in unserer Unbekümmertheit im Hinblick auf die „letzten Dinge“ bestärken. Aus den positiven Erlebnissen wird ja häufig die Erwartung abgeleitet, dass nach dem Tod jeder Mensch – quasi automatisch, unabhängig davon, wie er sein Leben geführt hat – , „ins Licht“ gelange.
Übersehen wird dabei, dass in Nahtodberichten schon immer nicht nur positive Erfahrungen, sondern auch Erlebnisse erschreckenden Inhalts geschildert wurden. Allem Anschein zum Trotz, der auf einseitigen Interpretationen beruht, eignen sich Nahtoderfahrungen nicht dazu, den Tod zu verherrlichen. In negativen Nahtoderlebnissen deutet sich an, dass es nach dem Tod nicht nur den einen ins Licht führenden Pfad geben könnte, dass vielmehr auch erschreckende Erfahrungen warten könnten. (Vgl.19) Der „Sog von der anderen Seite“ könnte ausbleiben. Es könnte sein, dass kein Licht aufleuchtet und keine verstorbenen Angehörigen den Verstorbenen empfangen und begleiten.
Durch die negativen Erlebnisse behält der Tod seine Ambivalenz, die er auch im christlichen Glauben immer hatte. Er kann nicht einfachhin als das Tor gedeutet werden, das unmittelbar in die Welt des Lichtes führt. Im Gegensatz zur christlichen Eschatologie ist jedoch in den negativen Erlebnissen wie in Nahtoderfahrungen überhaupt an keiner Stelle von einem Gericht oder einer Bestrafung die Rede. Beides wäre auch mit den Aussagen zur Bedingungslosigkeit der Liebe des Lichtes, die für Nahtoderfahrungen typisch sind, unvereinbar. (15,113)
In den Negativerlebnissen werden der Schrecken und die Bedrohung, die sich andeuten, nicht als Bestrafung, sondern als eine direkte Konsequenz betrachtet, die gewissermaßen in der Logik des eigenen Verhaltens und der persönlichen Lebensführung liegt. Nahtoderfahrungen bezeugen das Gesetz vom „Säen und Ernten“: „Dieses Leben ist eine Zeit zu säen. Die andere Seite steht unter dem Gesetz des Erntens. Auf der Erde gestalte ich meinen Charakter, mein spirituelles Sein.“ (2,74) Das bedeutet: So wie wir in diesem Leben damit rechnen müssen, mit den Folgen unseres Handelns konfrontiert zu werden, bleiben wir auch im nächsten Leben an die Folgen unserer Handlungen gebunden. „Wir schaffen unser eigenes Schicksal im nächsten Leben.“ (20,150).
Das Gesetz vom Säen und Ernten besagt: Nicht im Tod fällt die Entscheidung. Negative Erlebnisse sensibilisieren vielmehr für den Entscheidungscharakter, der mit unserem Leben als ganzem verbunden ist. Sie machen bewusst, dass die Art, wie wir unser Leben führen, bedeutsam ist: für andere und für uns selbst, für dieses Leben und (möglicherweise) für die Zeit „danach“.
Sie sind kein Grund zur Furcht vor einem strafenden und richtenden Gott. Sie lenken den Blick nicht auf eine äußere Instanz und deren Maßstäbe, sondern fordern uns auf, uns auf unsere Verantwortung uns selbst, unseren Mitmenschen und der Schöpfung gegenüber zu besinnen. Sie sensibilisieren für die Frage, worauf es eigentlich im Leben ankommt, wer wir sind und wie wir das verwirklichen können, was unser Wesen in seinem Kern ausmacht.
IV Rückkehr zum Ursprung
Wenn man sich an der Dynamik orientiert, die in Nahtoderfahrungen fassbar wird, liegt jenseits der himmlischen Landschaften noch ein größeres Ziel menschlicher Sehnsucht. In manchen Berichten zeigt sich eine Bewegung, die über das Glück, die Vollkommenheit, die Menschen an diesen Stätten empfinden, noch hinausweist und auf ein größeres Geheimnis hindeutet. Ein Sog wird wahrgenommen, der von einem noch helleren und stärkeren Licht herrührt. Die Menschen merken, dass ihr Streben und Sehnen in den himmlischen Regionen noch nicht seinen End- und Zielpunkt erreicht hat. Sie streben danach, eins zu werden mit dem Licht Gottes selbst. In Nahtoderlebnissen finden sich Vorstellungen einer Verschmelzung mit dem Göttlichen, wie sie aus der jahrtausendealten Tradition der Mystik bekannt sind.
Man kann feststellen, dass auch auf dieser Stufe einer Nahtoderfahrung die Erlebnisse für die Menschen zur Grundlage der Vorstellungen werden, die sie sich vom Tod machen. Damit gewinnt das Bild des Todes, wie es sich aus einem Vergleich vieler Erlebnisse herauskristallisiert, eine weitere Dimension, die über den Aufenthalt in den himmlischen Regionen hinausführt. Menschen, die eine mystische Erfahrung gemacht haben, sehen den Tod als Rückkehr zum Ursprung, in die Einheit mit dem göttlichen Urgrund des Seins.
Ekstase im Sterben?
Bei der Annäherung an das Licht empfinden manche Menschen den Wunsch, sich mit ihm zu vereinigen. „Mit meinem ganzen Herzen wünschte ich mir, es zu umarmen und mich mit ihm zu vereinen, eins zu werden mit ihm … Ich hatte nur den einen Wunsch: immer mehr und mehr davon zu bekommen und auf immer und ewig darin zu baden.“ (17,61) Das Licht wird zu einem unbedingt zu erstrebenden, absoluten Ziel. Es ist, als ob die Menschen in diesem Moment den tiefsten Wunsch, das tiefste Bedürfnis ihrer Seele entdeckt hätten. Auf die Frage, womit man dieses Streben ins Licht vergleichen könne, antwortete Inge Drees: „Mit sehr wenigem, höchstens umgekehrt mit dem unbedingten Willen sich zu retten, wenn man am Ertrinken ist oder abzustürzen droht. In meinem Fall war es aber ein seliges Streben, noch viel, viel mehr, als auf einen geliebten Menschen zuzustreben. Nichts anderes war mir mehr wichtig. Das war das Einzige, was zählte.“
Woher rührt dieses Bedürfnis nach Vereinigung mit dem Licht? Offenbar hat es damit zu tun, dass das Licht den Menschen vertraut ist. Es kommt ihnen vor, als seien sie hier schon einmal gewesen und würden nun in ihre eigentliche Heimat zurückkehren. „Es ist komisch, aber ich habe es noch nie mit Worten auszudrücken versucht. Es war wirklich so, als käme man heim.“ (17,55) Alles, was sie erleben, erscheint ihnen vertraut. „Ich war mir bewusst, dass nichts, was ich gerade erlebte, völlig neu war. Alle Erfahrungen brachten mir Erinnerungen an Vertrautes zurück … wie wenn man nach Hause kommt, nachdem man eine sehr, sehr lange Zeit fort war.“ (A. Petro)
Aus mystischen Erfahrungen nehmen Menschen die Überzeugung mit, den Ort ihres Ursprungs wieder entdeckt zu haben. „Ich spürte, dass ich hier schon einmal gewesen war, vielleicht, bevor ich in diese Welt geboren wurde.“ (18,33) Nach mystischer Vorstellung ist die Seele ewig. Sie ist nicht erst im Moment der Geburt quasi aus dem Nichts geschaffen worden.
Vor diesem Hintergrund muss auch das mystische Verständnis des Todes gesehen werden. Im Tod kehrt die Seele zu ihrem Ursprung, ihrer Quelle zurück. „Das Licht war mein Zuhause. Ich wusste, dass ich nur hierher zurückkehren konnte. Diesen Ort würde ich nie mehr verlieren können. Er war mein Zuhause, und ich und alle anderen würden hierher kommen, und ihn zu meiden oder nicht zu finden, war gar nicht möglich. Das war das einzige, was absolut sicher war, die Rückkehr hierher.“ (18,275) Nahtoderfahrene sehen das Ziel des Daseins so, wie es schon Angelus Silesius sah: „Wenn ich in Gott vergeh‘, so komm ich wieder hin, wo ich von Ewigkeit vor mir gewesen bin.“ (3,166)
So gesehen finden wir im Tod unsere eigentliche Heimat wieder. Was lange getrennt war, kommt endlich wieder zusammen. Der Tod, so sah es der Medizinprofessor Eckart Wiesenhütter vor dem Hintergrund seiner eigenen Nahtoderfahrungen, ist die „Wiedervereinigung des Getrennten“ und als solcher „höchste Ekstase“. (25,25)
Der Moment der Vereinigung wird als ein unbeschreibliches Ereignis geschildert. Eine Frau versuchte, diesen Augenblick in Worte zu fassen: „Als ich die Energie in mich aufnahm, spürte ich eine tiefe Wonne … dieses Gefühl war lebendig, bewegend herrlich, anschwellend, überschwänglich – absolute Wonne …“ (17,72) Manche Menschen vergleichen den Übergang in die Einheit mit einem Liebeshöhepunkt, bei dem das seelische Geschehen im Vordergrund steht: „Es ist wie das Gefühl eines Orgasmus, wenn man wirklich aus einer Zweisamkeit, und nicht nur aus sexuellem Antrieb heraus zusammenkommt, eine Art von Liebe, wie ich sie bisher noch nie erlebt habe. Auf dieser Ebene sehe ich dieses Gefühl. Es ist wie eine Vereinigung, eine grenzenlose Geborgenheit.“ (Gerhard J.) Auch Wiesenhütter greift auf dieses Bild zurück: „Jedenfalls geht der Mensch beim Sterben in den Ganzheitsbezug zurück; in letzter Instanz, in umfassender Weise geschieht ein Liebesakt.“ (25,25)
Aus mystischer Sicht kann man sich die Vereinigung mit Gott wie das Zusammenkommen von Liebendem und Geliebtem vorstellen. Die Liebesmystik kennt viele Bilder dieser Art. Aber die Wirklichkeit des Göttlichen übersteigt noch diese an personale Kategorien angelehnten Vorstellungen. Das Licht ist kein Einzelwesen, mit dem es zu einer Vereinigung käme. Es ist Inbegriff der Ganzheit, ein Bewusstsein und eine Kraft, die alles umfasst, alles aus sich hervorbringt, die als „Teil aller lebenden Dinge“ in allem Leben präsent ist.
Im Tod einzugehen in dieses göttliche Licht, mit ihm eins zu werden, ist mehr und etwas anderes als eine Wiederbegegnung von Liebenden, die lange getrennt waren. Es ist eine Rückkehr in die Ganzheit. Nada Eberhart fasste diese Erkenntnis vor dem Hintergrund ihrer eigenen Nahtoderfahrungen in die Worte, dass man nach allen „Schulungen“, die man auf der Erde durchlebe, am Ende dorthin komme, „wo man am Anfang war, wo man wirklich zuhause ist, zuhause in der Ganzheit. Diese Ganzheit nennt man dann Gott. Gott ist nicht der mit dem langen Bart, der die Leute bestraft. Ich weiß auf Grund dieser Erfahrung, dass irgendwann alle Lebewesen, die jetzt hier ihre Erfahrungen sammeln, in diese Ganzheit zurückkommen. Und das ist dann der sogenannte Gott, der Allmächtige, Allwissende, der auch ‚Einheit‘ genannt wird.“ (14,60)
Die Rückkehr in die Ganzheit, den göttlichen Ursprung, wird in der Mystik meist als Endziel allen Strebens und aller Sehnsucht betrachtet. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung auf ein Ende allen Leides und auf eine Geborgenheit, die niemals endet. Diese Hoffnung findet sich auch bei Nahtoderfahrenen. Nanci Danison schreibt: „Schließlich werden wir alle, wie auch die Schöpfung insgesamt, uns vereinen mit unserer Quelle und die Illusion des Getrenntseins für immer beenden.“ (5,224)
Danison weist aber auch auf die Möglichkeit hin, dass das Eingehen in die Einheit des Göttlichen nach dem Tod, die Rückkehr in den Ursprung, auch ein vorübergehendes Stadium sein könnte. (5,224) Die Wesen kehren zu ihrer Quelle zurück, um „mit dem Bewusstsein der Harmonie und Einheit“ gestärkt zu werden, weil eine zu lange Abwesenheit sie schwächt und ihnen das Gefühl gibt, getrennt zu sein (20,30) Danach könnten sie sich wieder aus der Einheit lösen. Gestärkt mit dem Wissen um ihre Zugehörigkeit zur Einheit des Göttlichen verlassen sie gewissermaßen wieder den Schoß Gottes und wenden sich neuen Erfahrungen zu.
Erfahrung der Einheit und individuelle Existenz wären dann unterschiedliche Stadien eines prozesshaften Geschehens. Damit würde verständlich, dass wir in Nahtoderfahrungen einerseits auf Berichte stoßen, die wie die Begegnungen mit Verstorbenen ein Überleben der Person als einzigartiges Wesen zu bezeugen scheinen, als auch auf der anderen Seite Schilderungen vorfinden, die auf eine Verschmelzung und ein – eventuell befristetes – Aufgehen in der Einheit hindeuten.
Transformation
Eins zu werden mit Gott als dem Inbegriff der Einheit und Ganzheit setzt voraus, dass man bereit ist, seine Individualität hinter sich zu lassen. Ein Mann, der sich in unmittelbarer Nähe zum Licht befand, schreibt: „Allmählich dämmerte mir, wenn ich es zuließe, mit diesem Licht und dieser wunderbaren Präsenz der Liebe um mich herum zu verschmelzen, würde sich der ‚Jim‘, mit dem ich mich identifizierte, in die Gestaltlosigkeit des Lichtes selbst auflösen … In totaler Verschmelzung würde sich meine eigene Identität als ein separates Wesen mit Bewusstsein und Gestalt auflösen in die Ewigkeit einer zeit-und raumlosen Einheit. Ich würde mich wahrhaft ausliefern und jede Kontrolle und alles Wollen aufgeben müssen.“ (9,14)
Nach mystischem Verständnis ist der Prozess der Einung mit einem Verlust der Individualität verbunden. „Der Tod“, schreibt Eckart Wiesenhütter, „macht aus dem Individuellen das ‚Werden zum Ganzen‘. ‚Er tötet das Partikulare‘“. (23,53) Das Individualbewusstsein verschmilzt mit „absolutem“ Bewusstsein, so dass es „kein getrenntes Bewusstsein mehr“ gibt (5,79).
Die Vorstellung, dass Sterben mit einem Verlust der Individualität verbunden sein könne, kann Angst auslösen. Was bleibt von uns übrig, wenn wir unsere Individualität preisgeben und Teil des Ganzen werden?! Ist das nicht letztlich doch eine andere Form des Todes? Nahtoderfahrene widersprechen einem solchen Verständnis. Eckart Wiesenhütter empfand die Auflösung der Individualität nicht als „ein Auslöschen des Ichs, sondern ein Fort- und Übergehen des Bewusstseins in ein nicht beschreibbares Überbewusstsein. Also nicht die Zerstörung, sondern das Aufgehen in etwas viel Größeres, in etwas, das ich als Liebe bezeichnen möchte.“ (25,166) Die Verschmelzung mit dem Göttlichen darf man sich demnach nicht als einen Verlust vorstellen, sondern muss sie als Erweiterung und Entgrenzung verstehen.
Die Erfahrung der Einheit wurde bereits in den Upanischaden, einer Sammlung philosophischer Schriften, die zwischen 700 und 200 vor Chr. entstand, in der gleichen Weise beschrieben, wie sie von Mystikern unserer Zeit geschildet wird. Eknath Easwaran fasst zusammen, wie der Zustand des Einsseins in diesen großen Zeugnissen indischer Spiritualität gesehen wird: „Die Freude in diesem Zustand lässt sich nicht beschreiben. Sie ist Ananda, reine, grenzenlose, unkonditionierte Freude. Die individuelle Persönlichkeit löst sich auf wie Salz in einem Meer der Freude, geht wie ein Fluss in ihm auf, erfreut sich wie ein Fisch in einem Ozean der Glückseligkeit.“ Er verweist auf eine Stelle in den Upanischaden, in der es heißt: „Wie ein Mann in den Armen seiner Geliebten kein Gewahrsein hat von dem, was außen, und dem, was innen ist, so hat man in der Vereinigung … kein Gewahrsein von dem, was außen, und dem, was innen ist, denn in diesem Zustand sind alle Begehren erfüllt.“ (6,39)
Wir müssen uns jedoch bewusst bleiben, dass die mystische Erfahrung nur ein Modell liefern kann für das, was möglicherweise nach dem Tod geschieht. Erst im Sterben, schreibt Wiesenhütter, vollziehe sich die Befreiung des Menschen aus seiner Ichbefangenheit. Wir könnten uns daher gar nicht vorstellen, wie das Aufgehen in das Höhere, ‚geheimnisvoll Umfassende’ letztlich aussehen werde. Uns komme im Sterben nur „ein Hauch“ entgegen, dass es „unbegreiflich mehr ist als das menschliche Eingeschlossensein in Ichheit und Individualität“. „Alles andere ist Glaube.“ (24,55)
Ein Entwicklungsprozess
Was geschieht, wenn eine Person ihre Individualität gar nicht aufgeben möchte und gewissermaßen zur Rückkehr in ihren Ursprung nicht bereit ist? Menschen, die eine mystische Erfahrung gemacht haben, gehen oft davon aus, dass jeder im Tod die Vereinigung in ähnlicher Weise erleben werde, wie sie es selbst erlebt haben. Die Vereinigung erscheint dann als ein fast zwangsläufiger, vom Licht, von Gott, ausgehender Prozess. Die Frage der Mitwirkung der Betroffenen selbst scheint sich erst gar nicht zu stellen. Auch bei Wiesenhütter steht die von der „anderen Seite“ ausgehende Dynamik im Vordergrund, wenn er schreibt, der „Sog von der anderen Seite“ werde im Sterben immer stärker. (24,54). Andererseits betont er jedoch auch den Aspekt der Selbsthingabe, die sich im Sterben vollende, und er sieht, dass dann das Sterben zu einem Problem „des Behaltenwollens der Ichheit“ oder der Hingabe werden kann. (24,51) Offen bleibt bei ihm jedoch, welche Konsequenzen es hat, wenn die Hingabe fehlt.
Manchmal schildern Menschen Erlebnisse, in denen die Frage der Freiheit und der Einwilligung berührt wird. Denn nicht jeder, der sich dem Licht nähert, ist bereit, seine Individualität preiszugeben, um mit dem Licht eins zu werden. Betroffene berichten, dass sie ebenfalls die Anziehungskraft des Lichtes spürten, vor einer Vereinigung jedoch zurückschreckten. Ihr „Nein“, sagen sie, sei akzeptiert worden. (14,57)
In diesen Beispielen erscheint die Rückkehr zum Ursprung nicht als ein quasi automatisch ablaufender Prozess, sondern als ein interaktives Geschehen, an dem zwei Seiten beteiligt sind: das „Licht“ und die Person selbst. Die Freiheit der Person bleibt gewahrt. Sie kann sich dem Prozess des Einswerdens verweigern, ohne dass die Verweigerung negativ bewertet würde.
Die Schilderungen machen deutlich, dass die Einung mit dem Licht im Kontext eines Entwicklungs- und Reifungsprozesses gesehen werden muss. Die Betreffenden sagen, ihnen sei in diesem Moment bewusst geworden, wie viel ihre Individualität ihnen bedeute. Das Erlebnis habe ihnen deutlich gemacht, dass sie noch weitere Erfahrungen als die Person machen möchten, die sie seien. Hier zeigt sich, dass die Individualität im mystischen Verständnis nichts Negatives ist. Sie stellt die Voraussetzung dar für Erfahrungen, die nur unter den spezifischen Bedingungen einer zeitlich und räumlich umgrenzten Daseinsweise möglich sind.
Übertragen auf das, was möglicherweise nach dem Tod geschieht, heißt das, dass wir uns die Rückkehr zum Ursprung, das Eingehen in das göttliche Licht, nicht als ein automatisches und zwangsläufiges Geschehen vorstellen dürfen. Die Wiedervereinigung des Getrennten wird nicht erzwungen. Sie ist das Ende eines langen Reife- und Entwicklungsprozesses, der sich unter Umständen auch nach dem physischen Sterben noch fortsetzen kann. Ein „Liebesakt“ setzt Hingabe voraus.
Ausgehend von den Berichten der Menschen, die eine Vereinigung mit einem göttlichen Licht erlebt haben, lässt sich das mystische Verständnis des Todes in folgender Weise skizzieren:
- Das letzte Ziel allen menschlichen Strebens besteht in einer Rückkehr zum göttlichen Ursprung.
- Der Verstorbene wird einen vom Licht ausgehenden „Sog“ spüren und das unwiderstehliche Verlangen empfinden, mit dem göttlichen Licht – der allumfassenden Liebe, dem absoluten Bewusstsein – eins zu werden.
- Er wird bereit sein, seine Individualität hinter sich zu lassen, um einzugehen, in die göttliche Liebe.
- Er wird die „Wiedervereinigung des Getrennten“ als höchste Ekstase erleben.
- Die „Rückkehr zum Ursprung“ schließt nicht aus, dass die Person bzw. das Selbst irgendwann wieder in eine individuelle Existenzweise zurückkehrt.
V Das doppelte Gesicht des Todes
Während einer Nahtoderfahrung ändert sich das Verständnis der Menschen vom Tod. Es kommt zu einer totalen Umwertung dessen, was wir aus einer rein am körperlichen Geschehen orientierten Perspektive mit Tod und Sterben verbinden. Der Tod erscheint nicht länger als das definitive Ende der Existenz, als Abgrund und gähnendes Nichts. Er stellt sich vielmehr als Übergang, als Geburt in eine andere, letztlich verlockende Existenzform dar.
In Nahtoderfahrungen begegnen uns Bilder der Hoffnung, die uns an unsere eigentliche Bestimmung und Herkunft erinnern. Sie halten das Bewusstsein wach, dass es ein Ziel gibt, das über alle irdischen Ziele hinausweist.
Der Tod zeigt, so betrachtet, ein doppeltes Gesicht: Zerfall, Zerstörung, Vernichtung, Auflösung aller Beziehungen aus der irdischen, am körperlichen Prozess orientierten Perspektive – Vollkommenheit, Wiederherstellung, Wiedervereintsein aus der Perspektive der anderen Seite. Von hier aus betrachtet, scheint er Anlass zu bieten für Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Trauer, von „dort“ aus gesehen dagegen für eine Freude, die jedes irdische Maß übersteigt: Der Tod gleicht einem Fest.
Es ist uns heute fremd geworden, den Tod mit Freude oder mit einem Fest in Verbindung zu bringen. In vielen alten Kulturen war das anders. C. G. Jung hat auf griechische Sarkophage hingewiesen, auf denen das freudige Element des Todes durch Tänzerinnen dargestellt wird, und auf etruskische Gräber, auf denen Gastmähler gezeigt werden. (8,317) Auch dem Christentum sind solche Bilder im Grunde nicht fremd. Der Münchner Theologieprofessor Bertram Stubenrauch erinnert daran, dass auch im Neuen Testament der Himmel mit einem Festmahl verglichen wird und von einer Hochzeitsfeier die Rede ist. (21,307)
Wenn Menschen, die eine tiefe Nahtoderfahrung gemacht haben, über den Tod sprechen, klingen oft Erwartung und Vorfreude an. Sabine Mehne stellt sich den Tod als „Höhepunkt des Lebens“ vor: „Würde in meinem Tod nur das geschehen, was ich während meines Nahtoderlebnisses erlebte, dann würde es mir schon reichen. Dies noch mal erleben zu dürfen, ist eine so tröstliche, ja wunderbare Vorstellung, die alle Angst umwandelt. Ich denke, dass es noch schöner wird, noch lichter und feiner, noch unaussprechlicher. Der Tod ist also einer der größten Transformationsprozesse überhaupt, und ich verstehe ihn als den Höhepunkt des Lebens“. (10,148)
Eckart Wiesenhütter zitierte ein 4000 Jahre altes ägyptisches Gedicht, in dem er seine eigene Vorstellung vom Tod wiederfand. Auch in diesem Gedicht erscheint der Tod wie eine großartige Verheißung:
„Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn ein Kranker gesundet,
Wie wenn man ausgeht nach der Krankheit.
Der Tod steht heute vor mir
Wie der Geruch der Myrrhen –
Wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt.
Der Tod steht heute vor mir
Wie der Geruch der Lotusblumen –
Wie wenn man am Ufer der Trunkenheit sitzt.“ (24,91)
Ein Beitrag von Joachim Nicolay
Hinweis: Joachim Nicolay ist Autor des Buches „Ein Gehen ins Licht – Nahtoderfahrungen“
Literatur
1 Bieneck A et al., „Ich habe ins Jenseits geblickt“. Nahtoderfahrungen Betroffener und Wege, sie zu verstehen. Neukirchener Verlagshaus, Neukirchen-Vluyn 2006
2 Brown JH, Heavenly Answers for Earthly Challenges. Jemstar Press, Pasadena 1997
3 Bütler R, Die universelle Botschaft der Mystik. Mystische Wahrheiten aus 4 Jahrtausenden. Verlag Via Nova, Petersberg 2007
4 Burrows BJ, My Journey through a Doorway called Death. In: Vital Signs, Vol.24/1 (2004), 3-6
5 Danison N, Backwards. Returning to Our Source for Answers. AP Lee &Co, Columbus 2007
6 Die Upanischaden, eingeleitet und übersetzt von Eknath Easwaran. Goldmann Verlag, München 2008
7 Eadie BJ, Licht am Ende des Lebens. Bericht einer außergewöhnlichen Nah-Todeserfahrung. Knaur, München 1994
8 Jaffé A (Hg.), Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Walter-Verlag, Kleve, (10. Aufl.) 1997
9 MacCartney J, Beyond the Edge of Life. In: Vital Signs, Vol. 28/2 (2009), 6-15
10 Mehne S, Auswirkungen einer Nahtoderfahrung auf das eigene Leben und die Einstellung zu Tod und Sterben. In: Serwaty A, Nicolay J (Hg.), Nahtoderfahrung- Neue Wege der Forschung. Santiagoverlag , Goch 2009
11 Mitchell C, Near Death. Stories from the other Side. Mandarin, Port Melbourne 1996
12 Moody RA, Leben nach dem Tod. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1999
13 Morse M, Perry P, Zum Licht. Was wir von Kindern lernen können, die dem Tod nahe waren. Goldmann Verlag, München 1992
14 Nicolay J, Rückkehr zum Ursprung – Das Transzendenzverständnis in Nahtoderfahrungen. In: Serwaty A, Nicolay J (Hg.), Nahtod und Transzendenz. Santiagoverlag, Goch 2008
15 Nicolay J, Der erfahrbare Gott – Begegnungen mit dem Licht. In: Serwaty A, Nicolay J (Hg.), Nahtoderfahrung- Neue Wege der Forschung. Santiagoverlag , Goch 2009
16 Piper D, Murphey C, 90 Minuten im Himmel. Erfahrungen zwischen Leben und Tod. Gerth Medien, Asslar (2. Aufl.) 2007
17 Ring K, Den Tod erfahren –das Leben gewinnen. Scherz Verlag, Bern 1984
18 Ring K, Elsaesser-Valarino E, Was wir aus Nahtoderfahrungen für das Leben gewinnen. Santiagoverlag, Goch 2008
19 Rommer B, Der verkleidete Segen. Erschreckende Nah-Todeserfahrungen und ihre Verwandlung. Santiagoverlag, Goch 2004
20 Storm H, Mein Abstieg in den Tod…und die Botschaft der Liebe, die mich von dort zurückbrachte. Santiagoverlag, Goch 2008
21 Stubenrauch B, Was kommt danach? Himmel, Hölle, Nirwana oder gar nichts. Pattloch, München 2007
22 Vogelsang F, Hoppe C (Hg.), Ohne Hirn ist alles nichts. Impulse für eine Neuroethik. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2008
23 Weirauch W, Begleitung in den letzten Augenblicken des Lebens. Interview mit Dorothea Rau-Lembke. In: Flensburger Hefte 51(1995), 7-27
24 Wiesenhütter E, Blick nach drüben. Selbsterfahrungen im Sterben. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1974
25 Wiesenhütter E, Der Tod hat nicht das letzte Wort. Nachgedruckt in: Serwaty A, Nicolay J (Hg.), Nahtoderfahrung- Neue Wege der Forschung. Santiagoverlag, Goch 2009