Nahtod | Bruce Greyson im Gespräch

Bruce Greyson ist Professor Emeritus der Psychiatrie- und Neuro-Verhaltenswissenschaften an der University of Virginia, School of Medicine (USA). Er ist Mitbegründer und Präsident von IANDS, der „International Association for Near-Death Studies“ und Herausgeber des Magazins für Nahtoderfahrungen. Er gilt als einer der führenden Wissenschaftler im Bereich der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen und deren gesellschaftlichen Auswirkungen. 

Bruce Greyson hat unter anderem eine Skalierung für Nahtoderfahrungen entwickelt, die zum Instrument für viele weitere Forschungen wurde. Damit ist es auch möglich, zwischen Nahtoderfahrungen und anderen Erlebnissen zu unterscheiden und Daten zu vergleichen. 

Nahtod | Bruce Greyson im Gespräch

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Herr Dr. Greyson, ich würde mit Ihnen gerne über Ihr neuestes Buch sprechen: „Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten“, das Sie für die breite Öffentlichkeit geschrieben haben. Sie erzählen darin auch viel von sich selbst, schreiben über Ihren Werdegang und die Herausforderungen ihrer beruflichen Karriere. Was hat Ihr Interesse an Nahtoderfahrungen geweckt?

GREYSON: Ich bin in einer wissenschaftlich orientierten Familie aufgewachsen. Mein Vater war Chemiker, und in meiner Familie gab es keine religiösen oder spirituellen Traditionen. Wir sind also in einer materialistischen Weltanschauung aufgewachsen. Das, was man sieht, ist real, und es gab nach meinen damaligen Informationen nichts, das über das Physische hinaus geht. Ich wurde dazu erzogen, Fragen durch das Sammeln von Daten zu beantworten. Und wenn die Daten dem widersprachen, was man glaubte, dann musste man eben seine Überzeugungen ändern. Mein Vater hat mir auch beigebracht, dass man nur kleine Wissensfortschritte mache, indem man bereits ziemlich gut bekannte Dinge studiert. Dadurch könnten wir sozusagen die Dezimalstellen verschieben. Wenn man in der Wissenschaft aber wirklich Fortschritte machen wolle, dann müssten wir die Dinge untersuchen, die wir noch nicht verstehen. Mit dieser materialistischen Denkweise bin ich durch das College und die medizinische Fakultät gegangen, dass wir alle Antworten im Universum durch physikalische Experimente finden würden …

Als ich meine psychiatrische Ausbildung begann, wurde ich in den ersten Wochen zu einer Patientin geschickt, die sich wegen einer Überdosis in der Notaufnahme befand. Ich war gerade in der Kantine des Krankenhauses, als mein Pager los ging. Das Geräusch war so laut, dass ich erschrak. Mir ist die Gabel aus der Hand gefallen und ich habe meine Krawatte mit Spaghettisauce bekleckert. Ich habe versucht, den Fleck wegzumachen, aber es ging nicht, und dann habe ich versucht, den Fleck mit meinem großen Labormantel abzudecken, damit ihn niemand sehen würde. Ich habe mich geschämt und wollte nicht dastehen, als würde ich nicht wissen, was ich tue. So ging ich zur Notaufnahme, um die Patientin zu betreuen. Sie war komplett bewusstlos. Ich konnte nichts daran ändern, egal was ich machte. Ihre Mitbewohnerin wartete unten in der Halle, um mit mir zu sprechen. Also ging ich hinunter und redete mit ihr etwa 15 Minuten lang über das Leben der Patientin, welche Sorgen sie hatte und welche Tabletten sie vielleicht genommen hatte. Es war ein sehr heißer Abend. Virginia ist ein sehr heißer Ort. Und in den 1970-ern gab es noch keine Klimaanlage, ich schwitzte sehr. Also hab ich meinen Labormantel aufgeknöpft, um mich etwas abzukühlen, wobei der Fleck auf meiner Krawatte für etwa zehn Minuten zu sehen war. Als ich mich von der Mitbewohnerin verabschiedete, bemerkte ich die sichtbare Krawatte und knöpfte meinen Mantel schnell wieder zu. Dann ging ich wieder zur Patientin. Sie war noch immer bewusstlos und konnte nicht geweckt werden. Also hab ich organisiert, dass sie für die Nacht in die Intensivstation gebracht wurde.

Ich besuchte sie am nächsten Tag wieder, nachdem sie aufgewacht war. Ihr war sehr schwindlig. Sie konnte kaum ihre Augen öffnen. Ich begann damit, mich bei ihr vorzustellen, und sie unterbrach mich und sagte: „Ich weiß, wer Sie sind. Ich kann mich an Sie von letzter Nacht erinnern.“ Das hat mich überrascht, und ich habe gesagt: „Ich dachte, Sie waren bewusstlos, als ich letzte Nacht mit Ihnen gesprochen habe. Sie öffnete dann ihre Augen und sagte: „Nicht in meinem Zimmer. Ich habe Sie gesehen, als Sie mit meiner Mitbewohnerin unten in der Halle gesprochen haben.“ Das hat mich komplett überrascht. Ich konnte mir nicht vorstellen, wovon sie da sprach. Das Einzige, das ich mir vorstellen konnte, war, dass sie ihren Körper verlassen hatte und mir in die Halle gefolgt war. Aber für mich war der Mensch der Körper. Was hätte ihn verlassen können? Sie bemerkte, dass ich verunsichert war und erzählte mir von dem Gespräch, das ich mit ihrer Mitbewohnerin gehabt hatte: all meine Fragen und die Antworten; wo wir gesessen hatten – und zum Schluss erzählte sie mir vom Fleck auf meiner Krawatte.

Das alles ergab keinen Sinn für mich. Ich war total verwirrt, eigentlich verängstigt. Aber schließlich war ich ja hier, um die Probleme der Patientin zu lösen. Also habe ich meine Verwirrung beiseite geschoben und habe versucht, ihr zu helfen und ihre Selbstmordgedanken zu besprechen. 

Ich habe die Gedanken an dieses Erlebnis dann fünf oder sechs Jahre beiseite geschoben, bis Raymond Moody, ein Kollege an der University of Virginia, sein Buch „Life after Life“ – „Leben nach dem Tod“ veröffentlichte. Er etablierte den Begriff „Nahtoderfahrung“ und beschrieb, was eine Nahtoderfahrung ist. Damit hatte ich den ersten Hinweis, dass die Geschichte, die mir die Patientin vor Jahren erzählt hatte, nicht einfach die Erfindung einer psychisch kranken Person war, sondern Teil eines riesigen Phänomens – das ich zwar noch nicht verstehen konnte, aber als Wissenschaftler drängte es mich zu weiteren Nachforschungen. Also begann ich, weitere Beispiele von Nahtoderfahrungen zu sammeln. Ich suchte nach Mustern und dem Sinn dahinter. Und das mache ich noch immer, 50 Jahre später. Ich versuche, hinter den Sinn solcher Erfahrungen zu kommen. 

Bevor wir in die Details gehen – könnten Sie uns einen Überblick zu ihrer 40-jährigen Studienarbeit und Ihren Erfahrungen geben? Was waren die wichtigsten Erkenntnisse für Sie? 

GREYSON: Ja, natürlich. Was mich am meisten überrascht hat, war, wie häufig Nahtoderfahrungen auftreten. Es gibt Studien mit Herzinfarkt-Patienten, etwa 10 bis 20 Prozent von ihnen erleben eine Nahtoderfahrung. Man kann das also auf eine von zwanzig Personen in der Gesamtbevölkerung umrechnen. Das sind 5 Prozent der Gesamtbevölkerung! Das heißt, jemand in der Familie, ein Kollege, oder jemand in der Klasse hatte vermutlich eine Nahtoderfahrung. 

Das zweite, was ich herausgefunden habe, ist, dass Nahtoderfahrungen nichts mit psychischen Krankheiten zu tun haben. Es sind normale Erfahrungen, die normale Leute unter abnormalen Umständen machen. Ich habe als Psychiater Zusammenhänge zwischen Psychosen und Nahtoderfahrungen gesucht und, ehrlich gesagt, gibt es keine. Es handelt sich hier um normale Erlebnisse, die unter abnormalen Umständen passieren. Außerdem gibt es immer wiederkehrende Muster und Merkmale, die kulturübergreifend und unabhängig von der Religionszugehörigkeit und der Kultur sind. Wenn man sich Überlieferungen aus dem antiken Griechenland oder Rom über Nahtoderfahrungen ansieht, dann hören sie sich gleich an, wie Nahtoderfahrungen von heute. Und für mich als Psychiater am signifikantesten ist, dass diese Erfahrungen das Leben der Menschen komplett verändern: Ihre Einstellung, ihren Glauben, ihre Werte und ihren Lebensstil. Ich glaube, es gibt nichts, was das Leben eines Menschen so extrem verändert wie eine Nahtoderfahrung.

Können wir dieses Thema der tief greifenden Nachwirkungen näher betrachten? Es gibt darüber ja viele Geschichten, von Polizisten, Soldaten oder Business-Leuten, die nach ihrer Nahtoderfahrung völlig verändert waren. Welche Effekte sind im allgemeinen zu beobachten? 

GREYSON: Ja, gern. Ganz generell werden Menschen viel spiritueller und sie beschäftigen sich weniger mit den weltlichen Dingen. Wenn ich „spirituell“ sage, dann meine ich, dass ihnen die Verbindung zwischen den Menschen viel bewusster wird. Sie fühlen sich mehr mit anderen verbunden, mit der Natur, der Welt, dem Göttlichen. Und sie haben mehr Mitgefühl für Menschen, sind selbstloser, kümmern sich mehr um andere Leute. Besitztümer, Macht, Prestige, Berühmtheit, Erfolg oder Ansehen –diese Dinge sind ihnen nicht mehr so wichtig. Das mag vielleicht nach guten Veränderungen klingen, aber es kann sehr schwer für Menschen sein, deren Leben zuvor ganz anders ausgerichtet war. Am dramatischsten ist es bei Menschen, für die Gewaltanwendung zum Leben gehört, wie etwa Polizisten oder Militäroffiziere, die einen Job haben, bei dem man Menschen töten muss. Nach einer Nahtoderfahrung haben sie oft das Gefühl, dass sie nicht mehr so leben können. Sie geben oft ihren Job auf und üben stattdessen einen sozialeren Beruf aus, im Gesundheitsbereich, als Sozialarbeiter, in der Bildung oder sonst etwas in dieser Richtung. Eine Nahtoderfahrung kann in Familien und Ehen große Konflikte auslösen. Denn der Partner hat diese große Veränderung nicht auch durchlebt. Dann gibt es Menschen, die sehr wettbewerbsorientierte Business-Jobs haben und nach einer Nahtoderfahrung keinen Sinn mehr darin sehen, auf Kosten anderer erfolgreich zu sein. Sie wissen: Wir sitzen alle im selben Boot, und sie können dann nicht mehr in dieses kompetitive Umfeld zurück. Und wenn sie doch zurückkehren, dann mit viel mehr Mitgefühl für ihre Mitbewerber, Mitarbeiter und Kunden. Eine Nahtoderfahrung ist also wirklich lebensverändernd. 

Sie haben vorhin erwähnt, dass es keine kulturellen Unterschiede gibt. Wenn jemand eine Nahtoderfahrung zum Beispiel in den USA oder Europa hat, erlebt er tatsächlich das gleiche wie jemand in Asien oder wie Angehörige indigener Völker? 

GREYSON: Das ist eine sehr interessante Frage, denn wenn man sich die Rohdaten ansieht, also die Dinge, von denen Menschen auf der ganzen Welt berichten, und auch wenn wir uns die letzten Jahrhunderte ansehen: die berichteten Phänomene an sich sind tatsächlich die gleichen, aber ihre Beschreibung wird von Kultur und Religion beeinflusst. 

Die meisten Nahtoderfahrenen sagen, dass es keine Worte gibt, mit denen sie diese Erfahrung beschreiben könnten. Deshalb verwenden sie Metaphern, um sie verständlich zu machen. Sie sagen, dass ihr eigenes Gehirn nicht verstehen kann, was passiert ist, also greifen sie oft auf Beschreibungen zurück, die sie aus ihrer Kultur oder Religion kennen. Zum Beispiel beschreiben Menschen überall auf der Welt die Begegnung mit einem liebenden Lichtwesen. Und Menschen, die einer monotheistischen Religion angehören, wie Christen, Juden oder Muslime, nennen dieses Lichtwesen Gott oder Allah. Aber Menschen, die an mehrere Gottheiten glauben, wie im Hinduismus oder Buddhismus, verwenden diese Begriffe nicht. Und sogar Christen haben mir gesagt: „Ich nenne es Gott, damit Sie wissen, worüber ich spreche, aber es war nicht der Gott, von dem ich in der Kirche gehört habe. Es war viel größer.“ Der kulturelle Hintergrund beeinflusst also, wie man eine Erfahrung interpretiert. 

Ein anderes Beispiel ist, dass Menschen aus westlichen Kulturen oft eine Art schwarzen Tunnel erleben, denn sie erleben pures Bewusstsein und sonst nichts – keinen Ton, nichts Sichtbares, sie fühlen sich wie in der Unendlichkeit. Das ist oft ziemlich furchteinflößend für Menschen in westlichen Kulturen. Wenn man aber mit jemanden spricht, der in einer Hindu-Kultur aufgewachsen ist, dann wird die Person sagen, dass das Glückseligkeit war. Das war Nirvana. Und sie haben sich sehr wohl gefühlt. Das gleiche Phänomen wird unterschiedlich interpretiert. 

Wie geht es Ihnen mit Ihren Forschungen eigentlich im Kreis wissenschaftlicher Kollegen oder im Umfeld der Medizin? Spüren Sie Widerstand, mangelndes Interesse? Wie reagiert die Öffentlichkeit im Allgemeinen? 

GREYSON: Ich habe in den Jahren, seitdem ich diese Arbeit mache, große Veränderungen erlebt. Als wir in den frühen 1980ern über diese Phänomene bei medizinischen Konferenzen gesprochen haben, herrschte meist Stille, manchmal wurden skeptische Kommentare abgegeben, und niemand wusste wirklich, worüber wir hier sprachen. Heute wissen viel mehr Menschen über Nahtoderfahrungen Bescheid, sodass es bei medizinischen Konferenzen nicht selten vorkommt, dass jemand aufsteht und sagt: „Lassen Sie mich über meine Erfahrung sprechen.“ Viele Ärzte wissen, dass viele ihrer Patienten dieses Phänomen erlebt haben und dass diese Erfahrungen ihr Leben verändern. Deshalb möchten die Ärzte mehr darüber wissen und sind sehr offen für Informationen. Sie haben natürlich berechtigte Fragen – zum Beispiel, wie Nahtoderfahrungen ausgelöst werden und welche Bedeutung sie haben. Aber sie akzeptieren generell, dass das echte Erfahrungen sind, die zu echten Konsequenzen führen.

Einer der faszinierendsten Aspekte von Nahtoderfahrungen ist die außerkörperliche Erfahrung. Wir kennen alle die Geschichte von Menschen, die über ihrem Körper schweben und das beobachten, was bei ihrer Operation vor sich geht, oder dass sie über dem Unfallort schweben. Wie schwer ist es, Beweise zu finden, dass diese Erfahrungen wirklich die Realität widerspiegeln? Wie zum Beispiel das Erlebnis mit Ihrer Krawatte und dem Spaghettisoßen-Fleck? 

GREYSON: Ich möchte mich nicht zu sehr auf die Spaghetti-Krawatten-Geschichte verlassen, weil ich damals noch so wenig wusste. Ich wusste zum Beispiel nicht, wie man nach anderen Merkmalen von Nahtoderfahrungen fragt. Aber seitdem habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die sehr ungewöhnliche Dinge beschreiben, die sie während ihrer außerkörperlichen Erfahrung gesehen haben. Das waren Dinge, die sie nicht erahnen hätten können. Und ich habe diese bestätigen können. Ich kannte zum Beispiel einen 55-jährigen LKW-Fahrer. Er hatte ganz plötzlich Schmerzen in der Brust während er unterwegs war und fuhr sofort zu einem Krankenhaus. Und bei der Untersuchung fand man heraus, dass vier Venen zum Herzen teilweise verstopft waren. Also brachte man ihn für eine Bypass-OP in den Operationssaal. Er erzählte mir dann später, dass er während der Operation seinen Körper verlassen habe, über sich selbst geschwebt sei und auf den Operationssaal geblickt habe. Und er habe seine Brust aufgeschnitten gesehen – und den Chirurgen, der seine Ellbogen so bewegte, als wollte er fliegen. Damals war ich bereits seit 30 Jahren Arzt, und ich fand diese Schilderung lächerlich. Niemand bewegt sich so, auch die Ärzte im Fernsehen nicht. Also befand ich, dass er halluziniert hätte, aber er bestand darauf, dass es so war. Ein paar Tage nach der Operation habe ich dann mit der Erlaubnis des Patienten mit seinem Chirurgen gesprochen. Und dieser erzählte mir dann, ernst und etwas widerwillig: „Ja, das stimmt. Ich habe diese Gewohnheit entwickelt, die sonst niemand hat. Meine Assistenten dürfen mit dem ganzen Vorgang beginnen, während ich meine Gummihandschuhe anziehe. Dann gehe ich in den Operationssaal, beobachte sie eine Weile und gebe ihnen Instruktionen. Ich will nichts angreifen, das nicht steril ist. Also lege ich meine Hände flach auf meine Brust. Und dann gebe ich meinen Assistentin Anweisungen mit meinen Ellbogen, damit ich nichts mit meinen Händen berühre.“ Er hat das dann genauso demonstriert wie der Patient. So etwas hätte der Patient niemals erraten können. Und wir haben viele solche Fälle dokumentiert. Jen Holden an der University of North Texas hat sich etwa 100 Berichte über außerkörperliche Erfahrungen angesehen und nach Details untersucht, die bestätigt werden könnten. In 92 Prozent aller Fälle fand sie unabhängige Zeugen, deren Aussagen mit den Beschreibungen komplett übereinstimmten. Wir sprechen hier also über kein seltenes Phänomen, sondern über etwas, das öfter vorkommt und von Dritten bestätigt werden kann. 

Sie und andere Forscher haben auch versucht, Beweise in einem Krankenhaus zu sammeln, wo Menschen nach einem Herzinfarkt wiederbelebt werden. Sie haben Tafeln auf Regale gelegt, damit jemand mit einer außerkörperlichen Erfahrung diese Tafeln von oben sehen und beschreiben kann. Das hat aber nicht so gut funktioniert, oder?

GREYSON: Nein, leider nicht. Es wurden etwa sechs solcher Studien veröffentlicht. Ich selbst habe mit Menschen gearbeitet, die Defibrillatoren in ihrer Brust implantiert hatten. Bei denen wussten wir genau, wann sie einen Herzstillstand hatten. Aber in 100 untersuchten Fällen hatte niemand relevante Erinnerungen. Eine größere Studie wurde von Sam Parnia an der New York University durchgeführt, eigentlich an mehreren Universitäten. Er machte eine Studie mit etwa 2000 Menschen, die im Krankenhaus einen Herzinfarkt erlitten hatten. Er platzierte Pfeile in Operationssälen, die man nur von oben sehen konnte. Von diesen 2000 Leuten konnten sich neun an etwas erinnern, das man mit einer Nahtoderfahrung assoziieren könnte. Und nur zwei von ihnen berichteten etwas, das einer außerkörperlichen Erfahrung ähnelte. Aber keiner von ihnen beschrieb einen Raum, wo ein Pfeil platziert war. In dieser Art wurden Studien durchgeführt, die sehr arbeitsaufwendig waren, aber nur wenige Resultate erzielten. Und wenn ich über diesen Ansatz mit Nahtoderfahrenen rede, lächeln sie nur milde und sagen: „Wenn man während eines medizinischen Notfalls zum ersten Mal eine außerkörperliche Erfahrung hat, schaut man sich sicher nicht im Raum um und sucht nach irgendeinem Pfeil, von dem man nicht einmal weiß, dass er da ist und der keine Bedeutung für einen hat. Und dann soll man sich an den auch noch nach so einer Operation erinnern …“ Ich fürchte, wir werden von diesen Studien keine Beweise bekommen. 

Besonders faszinierend ist auch das Thema „Begegnung mit verstorbenen Menschen“. Es geht dabei nicht nur um Menschen, von denen der Nahtoderfahrene weiß, dass sie verstorben ist, sondern auch um Leute, bei denen er nicht hätte wissen können, dass sie gestorben sind. Sie berichten in Ihrem Buch über mehrere beeindruckende Beispiele …

GREYSON: Zirka ein Drittel der Nahtoderfahrenen berichtet, eine verstorbene nahestehende Person getroffen zu haben. Solche Erlebnisse werden oft durch eine Erwartungshaltung, durch Wunschdenken erklärt. Du bist gestorben, und natürlich hast du dir gewünscht, dass deine Mutter dich willkommen heißt, darum hast du dir vorgestellt, dass du sie siehst. Aber es gibt eben auch Nahtoderfahrene, die jemanden getroffen haben, von dessen Tod sie nichts wussten. Vor mehr als zehn Jahren habe ich eine Arbeit drüber veröffentlicht, in der ich 30 solcher Fälle beschreibe … Fälle, die bis ins erste Jahrhundert zurück reichen. Plinius, der Ältere, schrieb schon über einen römischen Adeligen, der so eine Erfahrung gemacht hatte.

Ein Fall, mit dem ich selbst in Berührung kam, betraf einen Zwanzigjährigen, der an einer schlimmen Lungenentzündung litt, Atemstillstand hatte, und kaum mehr atmen konnte. Es gab eine Krankenschwester, mit der er jeden Tag zu tun hatte, etwa in seinem Alter. Die beiden freundeten sich im Krankenhaus an, und eines Tages erzählte sie ihm, dass sie sich ein langes Wochenende freinehmen wolle und eine andere Schwester sie vertreten werde. Sie verabschiedeten sich, wünschten einander alles Gute, dann fuhr sie weg. Und während sie weg war, hatte er wieder einen Atemstillstand und musste wiederbelebt werden. Währenddessen hatte er eine Nahtoderfahrung. Er fand sich in einer ländlichen Umgebung wieder. Dort traf er diese Krankenschwester, musste zweimal schauen, und fragte: „Anita, was machst du da?“ Sie sagte: „Ich bin hier, aber du kannst nicht hierbleiben. Du musst wieder in deinen Körper zurückkehren. Und ich möchte, dass du zu meinen Eltern gehst und ihnen sagst, dass es mir leid tut, den roten MGB ruiniert zu haben.“ Dann drehte sie um und ging. Als er später in seinem Körper im Krankenzimmer erwachte, erzählte er sein Erlebnis der ersten Krankenschwester, die in sein Zimmer kam. Sie war sehr erschüttert und verließ rasch wieder den Raum. Und es stellte sich heraus, dass Anita sich das lange Wochenende frei genommen hatte, um ihren 21. Geburtstag zu feiern. Ihre Eltern hatten sie mit einem roten MGB als Geburtstagsgeschenk überrascht. Sie war aufgeregt, stieg ins Auto, um herumzufahren, raste in einen Telefonmasten und war sofort tot. Das passierte kurz bevor er seine Nahtoderfahrung hatte. Er konnte auf keinen Fall gewusst haben, dass diese einundzwanzigjährige Frau gestorben war. Und er konnte sicher nicht gewusst haben, wie sie gestorben war, aber er wusste es trotzdem. Wie gesagt, wir haben viele Fälle, wo Leute Personen treffen, von denen sie nicht wussten, dass sie gestorben waren. So etwas kann man nicht als Erwartungshaltung abtun.

Wie erklären Sie sich das? Welche Erklärungsansätze gibt es aus Ihrer Sicht generell für Nahtoderfahrungen? Wie Sie ja auch in ihrem Buch schreiben, gibt es verschiedenste Theorien, etwa Sauerstoffmangel, chemische Veränderungen, Erwartungshaltungen. Wie bewerten Sie die gängigsten Erklärungen für solche Erfahrungen?

GREYSON: Wie schon erwähnt, war ich ein Skeptiker, als ich mit dieser Forschungsarbeit begann. Ein Skeptiker ist übrigens nicht jemand, der grundsätzlich nicht an etwas glaubt. Es ist jemand, der sich zurückhält, bis er alle nötigen Daten vor sich hat. Viele Menschen, die sich Skeptiker nennen, sind eigentlich gar keine Skeptiker. Sie sind einfach überzeugte Materialisten. Aber ich denke, ich war ein echter Skeptiker. Und ich habe mich dem Thema Nahtoderfahrung mit einer materialistischen Einstellung genähert – in der Annahme, dass es eine physikalische Erklärung geben muss. Und die offensichtlichste Erklärung war ein Sauerstoffmangel, denn egal wie man stirbt, ein Sauerstoffmangel ist eine der häufigsten Ursachen, die zum Tod führen. Aber es wurden viele Studien in den USA, in Großbritannien und in Europa – vor allem in Holland – durchgeführt, wo man bei Menschen, die nah am Tod waren, den Sauerstoffgehalt im Hirn gemessen hat. Dabei zeigte sich, dass Nahtoderfahrene besser mit Sauerstoff im Hirn versorgt sind, als Menschen, die keine solche Erfahrung haben. Das heißt aber nicht unbedingt, dass eine bessere Sauerstoffversorgung Nahtoderfahrungen begünstigt. Es heißt nur, dass es wahrscheinlicher ist, dass man sich an die Nahtoderfahrung später erinnern kann. Aber eines ist klar: Sauerstoffmangel begünstigt nicht Nahtoderfahrungen. Das Gegenteil ist der Fall. Das gleiche haben wir im Hinblick auf Medikamente herausgefunden. Je mehr Medikamente jemand in Todesnähe genommen hat, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er von einer Nahtoderfahrung berichtet. 

Es gibt auch Hypothesen, dass chemische Stoffe im Hirn unter Stress Nahtoderfahrungen auslösen, unter anderem Endorphine; es wurden etwa ein Dutzend verschiedene Stoffe vorgeschlagen. Das Problem dieser Hypothese ist, dass es praktisch unmöglich ist, sie zu überprüfen. Denn diese Stoffe wirken für eine kurze Zeit, und wir wissen nicht einmal, wo wir im Hirn danach suchen sollen. Es ist also mehr oder weniger unmöglich, sich das Gehirn einer Person anzusehen, die gerade eine Nahtoderfahrung erlebt und dabei eine Flüssigkeit zu extrahieren, die irgendwelche Stoffe enthalten könnte. Wir wissen also nicht mehr darüber. Aber es gibt andere Theorien, wie etwa, dass die Temporallappen damit etwas zu tun haben könnten, oder ein elektrischer Impuls, der während des Todeszeitpunktes ausgestoßen wird, oder schnelle Augenbewegungen im Zustand der Todesnähe. Wir haben die meisten dieser Theorien untersucht und herausgefunden, dass es hierfür keine Beweise gibt. Oder die Beweise sind nicht schlüssig und es gibt harte Fakten, die dagegen sprechen.

Stimmt es, dass es auch in einem Stadium zu Nahtoderfahrungen kommen kann, in dem das Hirn solche Erfahrungen nicht auf normale Weise erzeugen könnte, weil der Patient entweder zu krank oder in einem zu tiefen Koma war? Oder weil das Hirn nicht mehr funktioniert hat, weil es nicht mehr durchblutet war oder weil keine Hirnaktivität mehr messbar war?

GREYSON: Die meisten der gut erforschten Nahtoderfahrungen fanden bei einem Herzinfarkt statt. Wir wissen, dass das Hirn bei einem Herzinfarkt innerhalb von Sekunden Sauerstoff verliert, dass sich die Gehirnströme verändern. Innerhalb von zwanzig Sekunden sind die Wellen flach und zeigen überhaupt keine Aktivität in der Großhirnrinde mehr an. Sie ist ein Teil des Gehirns, der leicht zu messen, und der für komplexes Denken verantwortlich ist. Das trifft auch bei tiefer Anästhesie zu – also bei vielen Operationen, nach denen von Nahtoderfahrungen berichtet wird. Der Sinn einer Anästhesie ist es, diese komplexen Gedanken zu stoppen. Das funktioniert recht gut. Ich würde sagen, dass die meisten Nahtoderfahrungen, die erforscht wurden, während einer Zeit passieren, wo das Gehirn keine kognitiven komplexen Gedanken und Erinnerungen erzeugen kann, so wie wir das bei Nahtoderfahrenen sehen. Leider können wir die Hirnströme nicht wirklich messen, während jemand eine Nahtoderfahrung hat. Es dauert etwa 30 Minuten, um die nötigen Elektroden zu montieren, und wenn jemand in einer Notlage ist, kann man das nicht gut machen. Es gibt wenige Fälle, wo die Gehirnströme schon gemessen wurden, als jemand eine Nahtoderfahrung hatte. Diese haben gezeigt, dass die Personen eine funktionsfähige Wahrnehmung hatten, obwohl die Linie der Gehirnströme flach war. 

In Ihrem Buch schreiben Sie über Dr. Eben Alexanders „Tore ins unendliche Bewusstsein“. Wir haben mit ihm schon ein Interview für Thanatos TV gemacht. Leider habe ich nicht die Gelegenheit genutzt, ihn auch auf die Kritikpunkte anzusprechen, die gegen ihn vorgebracht werden. Kritiker werfen ihm vor, nicht die Wahrheit zu sagen. Was ist Ihre Meinung zu seiner Geschichte? Sie haben sich mit diesem Fall ja ausführlich beschäftigt und auch die medizinischen Daten dazu studiert …

GREYSON: Ja. Kritiker werfen Eben Alexander vor, dass gegen ihn Anklagen wegen Kunstfehlern erhoben wurden. Er sei diesbezüglich nicht ehrlich gewesen, und deshalb sei auch seine Geschichte unglaubwürdig. Nun, in der Neurochirurgie kommt es an sich zu den meisten Kunstfehlern in der Medizin. Es ist schwer, einen Neurochirurgen zu finden, der mit keinen solchen Vorwürfen zu tun hat. Das wäre also kein Grund, Eben Alexander zu unterstellen, nicht die Wahrheit zu sagen.

Schwerer wiegt, dass man seine Nahtoderfahrung anzweifelte, weil er in einem Koma gewesen sei, das durch Medikamente herbeigeführt worden sei. Man hätte ihm Medikamente gegeben, die ihn beruhigen sollten.

Ich war selbst skeptisch, was seinen Fall anlangt, aber ich habe auch den Aussagen anderer Skeptiker nicht getraut. Mit Eben Alexanders Einverständnis habe ich das Krankenhaus gebeten, mir seinen medizinischen Akt zu schicken – mehr als 600 Seiten. Ich habe mir eine Kopie vorgenommen und zwei andere Ärzte sahen sich unabhängig voneinander zwei weitere Kopien an. Und wir alle fanden die Angaben über seine Nahtoderfahrung bestätigt. Er war in ein tiefes Koma gefallen, noch bevor man ihm Medikamente gegeben hatte, und er erwachte aus dem Koma wieder, während er die Medikamente bekam. Die Medikamente hatten also überhaupt nichts mit seinem Koma zu tun.

Außerdem wurden sequenzielle computertomographische Scans durchgeführt. Diese zeigten das volle „Rauschen“ seines Gehirns. Es war überhaupt keine Struktur sichtbar. Auf Grund der Bilder sollten komplexe Gedanken und komplexes Denken nicht mehr möglich sein. Die Ärzte gaben ihm eine einprozentige Überlebenschance. Und sie dachten, dass sein Gehirn kaum noch funktionieren könnte, sollte er tatsächlich überleben. 

Haben die Ärzte das in die Akten geschrieben?

GREYSON: Ja, das scheint in den medizinischen Akten auf. Die Ärzte haben sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, seine Hirnwellen zu messen, da sie dachten, er würde sterben und dass sie ihm nicht mehr helfen könnten. Also haben sie ihn nur am Leben gehalten und ihn über Schläuche gefüttert. Aber zu ihrer Überraschung wachte er dann nach sechs Tagen doch wieder auf. Es dauerte eine Weile, bis er sich an alles erinnern und wieder sprechen konnte, aber er konnte sich sehr genau an diese Nahtoderfahrung erinnern, und die hatte einige belegbare Aspekte. Er konnte sich erinnern, dass er auf sein Krankenzimmer blickte, und er konnte konkrete Dinge schildern, die während seines Komas im Krankenhaus passiert waren. Es konnte auch verifiziert werden, an welchen Tagen diese Dinge passierten. Dabei zeigt seine Krankenakte, wie tief sein Koma war. Bei jedem Schichtwechsel hat das Pflegepersonal Messungen nach der Koma-Skala durchgeführt. Trotz dieser schweren Gehirnschädigung hatte er diese Wahrnehmungen.

Es gibt die verbreitete Ansicht, dass das Gehirn das Bewusstsein, den Geist, unsere Gedanken, unsere Wahrnehmung und das alles erzeugt. Und dann gibt es dazu andere Ideen, wie zum Beispiel, dass der Geist oder das Bewusstsein – man könnte es auch „Seele“ nennen – vom physischen Gehirn getrennt ist, aber niemand weiß ganz genau, wie die Zusammenarbeit funktioniert. Wie denken Sie über dieses Problem?

GREYSON: Wie die meisten Ärzte habe ich auf Grund meiner Ausbildung daran geglaubt, dass der Geist das ist, was das Gehirn macht, und dass all unsere Gedanken und Wahrnehmungen vom Gehirn erzeugt werden. Aber je mehr ich Nahtoderfahrungen erforscht habe, desto weniger machte dieses Konzept Sinn. Denn manchmal ist das Gehirn dabei offline oder zumindest stark eingeschränkt – und dennoch gibt es eindringliche bewusste Wahrnehmungen. Das ergibt keinen Sinn, sofern das Gehirn unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen erzeugt. Ich tendiere zur Ansicht, dass hier ein dualistischer Prozess stattfindet, dass es ein denkendes, fühlendes Etwas gibt, das man Geist, Seele oder sonst wie nennen kann, das getrennt vom Gehirn existiert. 

Das ist keine neue Idee. Hippokrates meinte schon vor 2000 Jahren, dass das Gehirn ein Botschafter oder Übersetzer des Geistes ist. Ein öfter verwendetes theoretisches Modell sieht den Geist irgendwo da draußen, und die Aufgabe des Gehirns darin, Geist zu filtern … genauso, wie ein Radiotuner Radiowellen herausfiltert. Es gibt tausende Radiostationen da draußen. Würde man versuchen, alle auf einmal zu hören, würde man keinen einzigen Sender verstehen. Der Tuner wählt einen bestimmten aus, und die anderen werden weggefiltert. Das Gehirn macht so etwas auch. Wie jedes andere Organ des Körpers dient es uns zum Überleben in der physischen Welt. Das Gehirn filtert also alle Inhalte des Geistes heraus, die nicht wichtig für das persönliche Überleben sind, wie etwa die Wahrnehmung von verstorbenen Menschen die einem nahe standen, oder die Kommunikation mit dem Göttlichen. Diese Dinge braucht man nicht unmittelbar, um Essen und ein Dach über dem Kopf zu finden. Das ist nicht überraschend. Wir sehen ja auch nicht das gesamte elektromagnetische Spektrum und hören auch nicht alle Frequenzen.

Wenn die Gehirnfunktionen beeinträchtigt sind oder ausfallen, dann verschwindet diese Filterfunktion, oder sie wird abgeschwächt. Und dann kommen all die anderen Dinge zum Vorschein, wie etwa, dass man verstorbene Personen sieht, oder dass Bewusstsein auch außerhalb des Körpers funktioniert. Nahtoderfahrungen sind ein Beispiel für geistige Erlebnisse ohne Gehirnfunktion. Aber es gibt noch andere, zum Beispiel die terminale Geistesklarheit, wo Patienten während des Endstadiums von Alzheimer kurz vor dem Tod plötzlich wieder ganz klar denken und das, nachdem sie mit ihren Verwandten schon Monate oder Jahre lang nicht mehr kommunizieren konnten. Es gibt dafür keine medizinische Erklärung. Nach dieser Theorie fällt die Filterung des Gehirns weg, sodass der Geist wieder wirken kann. 

Wie Sie erwähnt haben, stellt sich damit die Frage, wie der nicht physische Geist mit dem physischen Gehirn interagiert. Ich habe keine Ahnung! Aber wenn man andererseits dem konventionellen Modell glaubt, dass das Gehirn den Geist erzeugt, gilt das gleiche. Bis jetzt hat niemand die leiseste Ahnung, wie chemische oder elektrische Prozesse im Gehirn Gedanken oder Gefühle erzeugen sollten.

Ein vom Körper unabhängiges Bewusstsein könnte den körperlichen Tod überleben. Meinen Sie, die Erforschung von Nahtoderfahrungen könnte Hoffnung geben und die große Frage beantworten, ob wir unseren physischen Tod überleben?

GREYSON: Das ist die entscheidende Frage, nicht wahr?

Ja, die entscheidende Frage!

GREYSON: Wenn der Geist ohne Gehirn funktionieren kann, während man am Leben ist, dann könnte es die Möglichkeit geben, dass der Geist auch nach dem Tod funktioniert. Und dafür gibt es bei Nahtoderfahrungen sicher Hinweise, vor allem auf Grund der Begegnungen mit verstorbenen nahestehenden Personen, von deren Tod die Nahtoderfahrenen nicht wussten. Irgendwie überleben sie und können mit uns kommunizieren. Aber wie lange können sie überleben? Ist es eine Stunde, zehn Stunden, zehn Tage? Wir wissen es nicht. Manche Menschen behaupten, dass sie Angehörige getroffen haben, die vor Jahren oder Jahrzehnten verstorben waren. Wir wissen die Antworten zu diesen Fragen nicht, aber Nahtoderfahrungen geben ganz sicher Hinweise darauf, dass der Tod nicht unser Ende ist. Außerdem zeigen sie, dass man sich nicht davor fürchten muss, was nach dem Tod passiert. Nahtoderfahrene haben nach ihrer Rückkehr fast durchweg keine Angst mehr vor dem Tod. Sie fürchten sich nicht mehr, egal, was sie vor diesem Erlebnis über den Tod gedacht hatten. Das ist eine ziemlich bedeutende und weit verbreitete Veränderung nach Nahtoderfahrungen.

Offenbar fürchten sich auch Menschen, die einen Selbstmordversuch überlebt haben, nach einer NTE nicht mehr vor dem Tod. Ihnen ist klar geworden, dass es doch keine gute Idee ist, in den Tod zu gehen.

GREYSON: Ja, das stimmt. Ich habe mit vielen selbstmordgefährdeten Menschen gearbeitet, die es dann doch nicht taten, da sie Angst vor dem hatten, was nach dem Tod passieren würde. Ich dachte, wenn sie wüssten, dass nichts passiert, wären sie wohl noch selbstmordgefährdeter, aber so ist es nicht. Wir haben eine Studie mit Personen durchgeführt, die aufgrund eines Selbstmordversuchs ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Wir haben die Fälle, die aufgrund des Selbstmordversuchs eine Nahtoderfahrung hatten, mit denen verglichen, die keine hatten. Nahtoderfahrene waren danach viel weniger selbstmordgefährdet. Das ging gegen meine Intuition, deshalb bat ich die Betroffenen, mir das zu erklären. Und sie erzählten, dass ihnen ein Sinn und Zweck für ihr Leben deutlich geworden war. Auch wenn sie die gleichen Probleme wie vorher hatten, betrachteten sie sie nicht mehr als etwas, vor dem sie flüchten wollten, sondern als eine Herausforderung, durch die sie lernen konnten. Sie fanden ihr Leben bedeutsamer und erfüllter als vor der Nahtoderfahrung. 

Mit all dem Wissen, das wir angesammelt haben – nicht nur durch die Untersuchung von Nahtoderfahrungen, sondern auch in verwandten Bereichen wie der Parapsychologie – können wir immer noch nicht mit Gewissheit sagen, dass das Bewusstsein den Tod überdauert? Dass der Geist oder die Seele weiterlebt und ihre Individualität, ihrer Erinnerungen behält … sogar ihr Aussehen, denn wie sonst könnte man verstorbene Menschen erkennen? Haben wir nicht schon längst bewiesen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt?

GREYSON: Als Wissenschaftler bin ich vorsichtig mit der Aussage, dass wir Beweise für irgendetwas hätten. In den letzten Jahrhunderten haben wir immer wieder auf vorangehende Generationen hinabgeblickt und uns gedacht: „Wie konnten die nur so naiv sein, so etwas zu glauben!“ Und ich bin mir sicher, dass man in hundert Jahren im Rückblick auf uns das Gleiche sagen wird. Ich meine, dass die Hinweise sicher auf ein Leben nach dem Tod deuten, aber ich würde nicht sagen, dass sie zu 100 Prozent schlüssig sind. Vielleicht missinterpretieren wir sie ja. Es könnte in den nächsten 50 Jahren weitere Hinweise geben, die dem widersprechen, was wir jetzt wissen. Aber ja, es scheint auf jeden Fall so zu sein, dass wir überleben. Wenn es aber darum geht, wie wir überleben, dann bin ich mir nicht so sicher. Denn die meisten Nahtoderfahrenen sagen, dass sie das, was sie erlebt haben, nicht in Worte fassen können. Wenn sie jemanden sehen und als eine verstorbene nahestehende Person identifizieren, beschreiben sie diese Person als äußerlich gleich. Aber es gibt auch welche, die das nicht machen. Sie sagen zum Beispiel: „Da war dieses Licht, und ich habe es als meine Mutter erkannt.“ – „Und wie wussten Sie, dass das Ihre Mutter war?“ – „Na ja, es hat sich wie sie angefühlt. Es hatte ihren Geruch.“ Das heißt, diese Menschen haben eine Wahrnehmung und versuchen sie irgendwie zuzuordnen. Und wenn verstorbene Personen visuell wahrgenommen werden, dann nicht in der Gestalt zum Todeszeitpunkt, sondern so wie in der Hochblüte ihres Lebens. Das heißt, die Erlebenden versuchen das Erlebte einzuordnen und identifizieren dadurch die Person. 

Sie haben 40 Jahre lang versucht, Fragen zu beantworten. Zu welcher persönlichen Weltanschauung sind Sie gekommen? Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod? Wie denken Sie darüber?

GREYSON: Die größte Veränderung in mir war, dass ich die Tatsache, die Antworten nicht zu kennen, jetzt als angenehm empfinde. Vor 50 Jahren hätte mich eine solche Einstellung entsetzt. Aber ich habe so viele Dinge gesehen, die ich nicht verstehen kann, von denen ich aber überzeugt bin, dass sie echt sind. Daher stimme ich mit Nahtoderfahrenen überein, wenn sie sagen, dass das Gehirn nicht so richtig begreifen kann, was es da draußen wirklich gibt. Das, was nach dem Tod geschieht, ist so weit entfernt von unserer Vorstellungskraft, dass ich wohl einfach ziemlich überrascht sein werde, wenn ich selbst dort ankomme. 

Was sind die wichtigsten offenen Fragen im Bereich der Nahtod-Forschung? 

GREYSON: Ich glaube, die größte Frage betrifft wohl den Sinn und den Ursprung solcher Erfahrungen. Gibt es wirklich eine Seele oder einen Geist, der nicht physisch ist und den physischen Körper überlebt? Die Hinweise deuten in die Richtung, aber ich denke, sie sind bis jetzt nicht beweiskräftig genug. Ich glaube auch, dass die Frage nach den erzieherischen Werten wichtig ist. Die meisten Nahtoderfahrenen kommen mit der Überzeugung zurück, dass alles auf der Welt miteinander verbunden ist. Menschen erscheinen ihnen wie die Finger einer Hand. Sie wirken als individuelle Einheiten, aber wenn man die ganze Hand betrachtet, sieht man, dass sie miteinander verbunden sind. Daraus ergibt sich für sie die goldene Regel, dass man andere Menschen so behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte. Das sagt auch jede Religion auf der Welt. Nahtoderfahrene empfehlen das nicht nur, sondern für sie ist klar, dass das Universum wirklich so funktioniert. Man kann niemandem wehtun, ohne sich selbst weh zu tun. Und gleichzeitig hilft man sich selbst, wenn man anderen hilft. Nahtoderfahrene kommen mit viel mehr Mitgefühl für andere zurück, was zu einem erfüllteren und bedeutungsvolleren Leben führt. Viele sprechen von einer Welle im Ozean, dass wir also in unserem Leben eine Welle sind, die aus dem gleichen Material besteht, wie der Ozean selbst. Schließlich verschmelzen wir wieder mit dem Ozean und hören auf, eine individuelle Welle zu sein. Das ist, finde ich, eine schöne Metapher zu dem, was nach dem Tod passieren könnte. Dass wir mit diesem Höheren – was auch immer es ist, vielleicht ein Bewusstsein, eine Gottheit, ein Ozean – dass wir damit eins werden, ohne unsere Individualität zu verlieren. 

Was werden Sie in nächster Zukunft machen? Wie geht es mit Ihren Forschungen weiter?

GREYSON: Das ist eine gute Frage. Als Psychiater bin ich am meisten daran interessiert, wie sich diese Erfahrungen auf Menschen auswirken. Ich konzentriere mich jetzt vor allem auf Nahtoderfahrene, denen es schwer fällt, wieder ins normale Leben zurück zu finden, auf die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind und was zu einer Lösung helfen könnte. Dafür befragen wir Nahtoderfahrene und auch Therapeuten. Wir wollen herausfinden, welche Techniken am hilfreichsten sind, damit Menschen, die nach einer Nahtoderfahrung Probleme haben, leichter ins physische Leben zurück finden. 

Was sind denn die größten Herausforderungen für diese Menschen?

GREYSON: Dass man sich über sie lustig macht, oder dass sie gebrandmarkt werden. Manche Leute nennen sie verrückt. Andere haben Probleme, mit ihrer Erfahrung klarzukommen, ihre Lebensführung ihrer neuen Haltung anzupassen. Auch in der Familie kann es Probleme geben. Wenn jemand zum Beispiel seinen Glauben ändert, aber der Mann, die Frau, oder die Eltern ändern diesen Glauben nicht – wie lässt sich dieses Problem lösen? Oder wenn sich die Werte ändern, das, was wichtig im Leben ist, die Karriere, Hobbys, ehrenamtliche Tätigkeiten.

Und arbeiten Sie weiterhin mit der Universität zusammen, mit dem Institut für Wahrnehmungsstudien? 

GREYSON: Ich bin offiziell in Pension. Das heißt, sie wollen mich nicht für meine Arbeit bezahlen. Aber ich forsche und unterrichte noch viel und ich unterstütze junge Kollegen bei ihren Forschungsarbeiten. 

Dr. Greyson, vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen und Eindrücke mit uns geteilt haben. Es war sehr faszinierend und zum Nachdenken anregend. Ich hoffe, dass Ihr Buch noch in viele Sprachen übersetzt wird und viele Leser finden wird. Vielen Dank für das Interview. 

GREYSON: Vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, mit Ihnen zu sprechen!

 

Interview: Jens Rohrbeck
Übersetzung: Katrin Salhenegger-Niamir
Redaktion: Werner Huemer

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