Nahtoderfahrungen und der Umgang mit Sexualität und Partnerschaft

Inwieweit verändern Nahtoderfahrungen die Einstellung zur Sexualität? Der folgende Fachbeitrag von Dr. Joachim Nicolay stammt aus der Publikation „Nahtoderfahrung und Lebensrückblick“ und ergänzt auch unser Interview zum Thema „Nahtoderfahrung und Homosexualität“

In dem folgenden Beitrag stehen Texte aus Nahtoderfahrungen im Mittelpunkt, die auf den Umgang mit Sexualität und Partnerschaft eingehen. Ich füge diese Texte in eine Reflexion unserer heutigen Einstellung zur Sexualität ein. Sie wurde maßgeblich von der sogenannten „sexuellen Revolution“ geprägt, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stattfand. Ich stelle zunächst die Ziele dieser Bewegung vor und gehe der Frage nach, welche Auswirkungen sie auf das Partnerschaftsverständnis in unserer Zeit hat. Vor diesem Hintergrund erörtere ich Berichte über Lebensrückblicke, in denen sich Menschen mit ihrem sexuellen Verhalten auseinandergesetzt haben. 

1. Sexuelle „Befreiung“ als Weg zum Glück?

Die sexuelle Revolution fand in einer Zeit statt, in der alle bisher geltenden Normen in Frage gestellt wurden. Dazu gehörten auch sexuelle Tabus. Man wollte die Prüderie der Nachkriegszeit und die als repressiv empfundene bürgerliche Sexualmoral hinter sich lassen. Den Protagonisten der sexuellen Revolution ging es jedoch nicht nur darum, sexuelle Kontakte von Schuldgefühlen zu befreien. Ein neues Lebensgefühl, ein alternatives Lebenskonzept sollte begründet werden. Die Sexualität wurde mit Erwartungen überfrachtet. Das persönliche Glück schien allein vom Ausleben sexueller Bedürfnisse abzuhängen. 

Eine der Quellen, auf die sich die sexuelle Revolution stützte, war die Psychoanalyse. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, war zwar nicht generell für ein Ausleben der Sexualität eingetreten. Jedoch klingt in manchen seiner Werke an, dass er ihre Unterdrückung als Grund für ein allgemeines Unbehagen ansah. Das Unbehagen in der Kultur lautete denn auch der Titel eines Aufsatzes, in dem er die Sexualität als „die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lustempfindung“ beschrieb. Als solche sei sie das Vorbild für das menschliche Streben nach Glück und Erfüllung. (Freud 1974, 213 f.) Freud kritisierte, dass Kultur und Gesellschaft dem Luststreben enge Schranken setzten und äußerte die Erwartung, dass sich allmählich kulturelle Veränderungen durchsetzen werden, „die unsere Bedürfnisse besser befriedigen“. (1974, 244) Mit diesen Ansichten wurde er zu einem Wegbereiter der sexuellen Revolution. Einer seiner Schüler, der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, hat diese Gedanken aufgegriffen und weitergeführt. Mit seinem Buch Die sexuelle Revolution hat er der Bewegung ihren Namen gegeben. (1966)

Das Modell, das die sexuelle Revolution propagierte, stand von vornherein in Konkurrenz zu traditionellen Vorstellungen von Ehe und Partnerschaft. Sie galten als „spießig“, weil sie einem ungehemmten Ausleben der Sexualität im Weg standen. Sprachliche Verunglimpfungen überkommener Vorstellungen von Liebe und Treue wurden zum Mittel im Kampf um die Meinungsherrschaft. In seinem damals viel beachteten Buch Sexfront kritisierte der Hamburger Sexualwissenschaftler Günter Amendt Eltern, die ihre Kinder mit „übertriebener Zärtlichkeit“ erziehen. Wenn diese Kinder einmal erwachsen sind, wollen sie sich nicht auf unverbindliche, entpersönlichte Sexualkontakte einlassen. Sie suchen vielmehr Zärtlichkeit und Partnerschaft. So erweise sich zu einem späten Zeitpunkt übertriebene Zärtlichkeit von Eltern an ihren Kindern als „eine besonders intensive Fessel der sexuellen Lusterfahrung“. (1970, 99) An den Aussagen Amendts wird das Ziel der sexuellen Revolution deutlich: die Herauslösung der Sexualität aus persönlichen Beziehungen. 

Aus heutiger Sicht kann man es als ein Verdienst der sexuellen Revolution betrachten, dass sie vor dem Hintergrund einer leib- und lustfeindlichen Moral dazu beigetragen hat, die Sexualität von Schuldgefühlen zu befreien. Sie hat vielen Menschen zu einer größeren Akzeptanz ihrer Sexualität verholfen und die Entwicklung einer toleranteren Haltung gegenüber der Homosexualität gefördert. Auf der anderen Seite ist sie dem, was sie bekämpft hat, noch im Widerspruch verhaftet geblieben. Die bürgerliche, kirchlich geprägte Sexualmoral war lustfeindlich und erzeugte Schuldgefühle. Dadurch erschwerte bzw. verhinderte sie eine Integration der Sexualität in die Persönlichkeit. Die sogenannte sexuelle „Befreiung“ hat die Vorzeichen umgedreht. Sie verabsolutierte das Luststreben. Die Triebunterdrückung sollte durch ein ungehemmtes Ausleben der Bedürfnisse ersetzt werden. Eine Integration im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung wurde gar nicht mehr angestrebt. 

Was ist aus den Ideen von damals geworden? Die Auswirkungen der sexuellen Revolution sind heute allgegenwärtig. In den Medien sind Darstellungen sexueller Handlungen in allen Varianten schon lange kein Tabubruch mehr. Pornokonsum ist für viele alltäglich geworden. Die vielleicht bedeutsamste und folgenreichste Entwicklung jedoch wurde von der Öffentlichkeit noch kaum registriert. Inzwischen werden auch im pädagogischen Bereich Ansätze vertreten, die eine Entpersönlichung der Sexualität zum Ziel haben. Unter dem Begriff „emanzipatorische“ bzw. „neo-emanzipatorische“ Sexualpädagogik hat die sexuelle Revolution inzwischen die Schulen erreicht. Entsprechende Vorstellungen äußerte schon 2004 Uwe Sielert von der Uni Kiel im Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Er plädierte in einem Beitrag dafür, die bisherigen Annahmen über die vermeintlichen Grundfesten sexueller Identität infrage zu stellen. Als Ziel nannte er, „Heterosexualität, Generativität und Kernfamilie zu ‚entnaturalisieren‘“. Dazu gehöre auch, dass sich die Sexualpädagogik von aller „Kopulationsmystik“ zu befreien. (Internetquelle 1)

Das Buch Sexualpädagogik der Vielfalt liefert mit praktischen Vorschlägen eine Hilfestellung für die Umsetzung dieser Ziele in Schule und Jugendarbeit. Als Beispiel möchte ich eine Übung anführen, die die Überschrift „Der neue Puff für alle“ trägt. In der Anweisung heißt es, die Schüler sollten Ideen entwickeln, wie ein Bordell in der Großstadt, das als „Freudenhaus der sexuellen Lebenslust“ alle Bedürfnisse bedienen soll, modernisiert werden könne. Die Übung unterstreicht die angestrebte Entpersönlichung der Sexualität. Dass Schüler mit solchen Übungen möglicherweise verunsichert werden, ist Absicht. Die Autoren bekennen sich dazu, mit ihren Übungen „bewusst Verwirrung und Veruneindeutigkeit“ anzustreben. (Tuider et al. 2012) 

2. Auswirkungen auf das Partnerschaftsverständnis

In der erwähnten Übung wird der Gang ins Bordell als eine ganz natürliche, der Lebensfreude dienende Form der Freizeitgestaltung dargestellt. Die Sexualpartner werden austauschbar. Aber was heißt das im Hinblick auf Paarbeziehungen, auf Ehe und Familie? Wer für eine Entpersönlichung der Sexualität eintritt, darf diese Frage nicht unbeantwortet lassen. Sie ist von entscheidender gesellschaftlicher Bedeutung. 

Die Vorstellung einer aus dem Beziehungskontext herausgelösten Sexualität wird heute vor allem durch Pornos verbreitet. Inzwischen gibt es Hinweise, wie sich ein exzessiver Pornokonsum auf das Verständnis von Partnerschaft auswirkt. Bryant Paul, Professor an der Indiana Universität Bloomington, ist überzeugt, dass auf diesem Weg die Vorstellungen junger Menschen von der Sexualität entscheidend geprägt werden. „Wenn sie immer wieder bestimmten Themen ausgesetzt sind, greifen sie sie auf und verinnerlichen sie. Sie werden Teile ihrer sexuellen Skripte“. Als Beispiel führt er Bilder an, in denen Frauen Sex mit unterschiedlichen Partnern haben oder Frauen als Sexualobjekte für Männer fungieren. (Orenstein 2016, 35) Sie liefern das Modell für einen entpersönlichten Umgang mit der Sexualität mit wechselnden Partnern. Die Psychotherapeutin Tabea Freitag sieht das ähnlich. Sie berichtet über Erkenntnisse aus ihrer Arbeit mit Menschen, die an Internet-Sexsucht leiden. Sie sagt: „Je öfter Jugendliche Pornos im Internet sehen, desto stärker brennen sich die Bilder ein, die sie gesehen haben, und prägen ihre Vorstellungen von Sexualität. Und umso mehr trennen sie Sexualität von jedem Beziehungskontext.“ (2014, 42) Im Endeffekt fördert die Verabsolutierung des Luststrebens die Promiskuität.

Tabea Freitag nennt Folgen für Partnerschaften. „Die Empathie nimmt ab, während die narzisstische Anspruchshaltung zunimmt: Ich habe ein Recht auf Sex, gib mir das, was ich will, und gib es mir so, wie ich es will.“ (2014, 42) Sie glaubt, dass unter dieser Anspruchshaltung vor allem die Frauen leiden. Ihre Partner verlieren rasch das sexuelle Interesse. „Die natürlichen Stimuli der Partnerin reichen im Vergleich zu den pornographischen Stimuli nicht mehr aus.“ (2014, 43) Tabea Freitag ist der Überzeugung, dass die Auswirkungen nicht auf den sexuellen Bereich beschränkt bleiben. Häufig leide auch das allgemeine Interesse an den Wünschen und Bedürfnissen der Partnerin. (2014, 42) 

Wenn die sexuelle Beziehung ihre Bindungswirkung verliert und die Empathie für den Partner abnimmt, wird die Stabilität der Partnerschaft geschwächt. Wenn dann noch Schwierigkeiten und Krisen hinzukommen, liegt der Gedanke nahe, sich aus der Beziehung zurückzuziehen und in ein sexuelles Abenteuer zu flüchten. Das Internet macht das Fremdgehen leicht. Wenig Beachtung finden allerdings die belastenden Folgen. Der Psychoanalytiker Micha Hilgers verweist auf den hohen emotionalen Preis, den alle Beteiligten für einen Seitensprung oder die „Dreiecksbeziehung“, die sich daraus ergeben kann, bezahlen. (2001, 33) Am Ende steht oft die Scheidung. Ein Scheidungsanwalt, der viele Scheidungen begleitet hat, sagte auf die Frage, was der häufigste Scheidungsgrund sei: „Egal ob erste Ehe oder zweite: Untreue. (Beisel 2014)

3. Ethik der Verbundenheit 

Welche Antworten lassen sich aus Nahtoderfahrungen zu den Fragen ableiten, die durch die sexuelle „Befreiung“ aufgeworfen werden? Wie wird zum Beispiel die Homosexualität beurteilt? Was ist mit der Idee der „freien Liebe“? Kann man ethische Kriterien erkennen, die für Nebenbeziehungen relevant wären? 

In Nahtoderfahrungen wird die Sexualität meistens im Zusammenhang mit einem Lebensrückblick erwähnt. Von besonderem Interesse sind Beispiele, in denen Lichtwesen oder eine religiöse Gestalt – quasi als „Repräsentanten der Transzendenz“ – anwesend sind. Anders als viele es von ihnen erwarten, verurteilen und bewerten die Lichtwesen nicht. Betroffene äußern manchmal ihr Erstaunen über die bedingungslose Annahme, die ihnen entgegengebracht wurde. So erging es George Ritchie. Er hatte einen Lebensrückblick in Gegenwart einer Lichtgestalt, die sich als Christus zu erkennen gegeben hatte. Im Rückblick tauchten Szenen aus Kindheit und Jugend auf. Er schreibt: „Meine Kindheit verlief ziemlich normal. Sicherlich hatte auch ich die sexuellen Erkundungen der Kindheit und des Jugendalters mitgemacht. Mich berührte es peinlich, als ich sie sehen musste, doch den Herrn überraschten sie nicht, noch schockierten sie ihn im Geringsten.“ (Ritchie 1995, 38) 

Beim Vergleich der Texte fällt mir auf, dass im Zusammenhang mit dem Thema „Sexualität“ erstaunlich oft von humorvollen Reaktionen die Rede ist. Das macht insofern Sinn, als Humor ein Mittel ist, einer Situation die Peinlichkeit zu nehmen. Als Carry, ein homosexueller Mann, einem Lichtwesen begegnete, das Liebe ausstrahlte, war es für ihn naheliegend, ihm eine Frage zu stellen: „Ist es okay, schwul zu sein?“ Ihm schien, dass das Lichtwesen lächelte. Es entgegnete: „Carry, das ist nicht die wichtigste Frage!“ (Internetquelle 2) Mit der humorvollen Antwort wird der Situation ihre Peinlichkeit genommen und zugleich die Bedeutung des Themas heruntergespielt. Homosexuelle machen in ihrem Alltag oft die Erfahrung, mehr nach ihrer sexuellen Ausrichtung als nach ihrem Charakter und ihrer Person beurteilt zu werden. Es ist für sie entlastend zu hören, dass aus der transzendenten Perspektive des „Lichtes“ die sexuelle Ausrichtung nicht so wichtig ist. Von den Wesen der „anderen Welt“ akzeptiert zu werden, vermittelt den Menschen die Überzeugung, „dass Sex eine schöne, gesunde … Funktion ist, die wir ohne Schuldgefühle genießen sollten“. (Danison 2007, 151) Das gilt ausdrücklich auch für die Homosexualität. Einem homosexuellen Mann wurde mitgeteilt, dass er seine Sexualität „als ein wertvolles Geschenk Gottes ehren und achten solle“. (Dale 2001, 102)

Akzeptanz ist der Grundtenor in den Berichten. Lichtwesen verzichten auf eine Bewertung. Sie respektieren die Freiheit der Menschen, selbst über den Umgang mit ihrer Sexualität zu bestimmen. Aber ihre Unterstützung geht noch weiter. Zwar machen sie keine Vorgaben. Aber mit der Lebensrevision rücken sie die mitmenschliche Ebene ins Bewusstsein und geben den Betroffenen so einen Maßstab an die Hand, an dem sie sich orientieren können. Die Menschen können selbst die Folgen sehen und spüren, die das eigene Handeln für andere haben kann, die Verletzungen, die es nach sich ziehen kann. Auf diese Weise werden sie dazu eingeladen, sich nicht allein auf sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren, sondern das Wohl der Partner mit in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Eine Ethik der Verbundenheit kristallisiert sich heraus, die alle, ob Heterosexuelle, Homosexuelle oder Transsexuelle, in gleicher Weise einbezieht.

Wenn man sich an ihr orientieren will, muss man die Auswirkungen seines Handelns auf die Interaktionspartner – aber auch auf sich selbst – in seine Entscheidung einbeziehen. Ich will es am Beispiel eines Seitensprungs erläutern. Oft sind es Beziehungsprobleme, die jemand dazu bringen, sich auf ein sexuelles Abenteuer einzulassen. Ein Bewusstsein der Verbundenheit würde dazu führen, die Folgen für alle Beteiligten mitzubedenken: die Demütigung des Partners, der sich in seinem Vertrauen getäuscht fühlt; die Gefährdung der Beziehungen auf beiden Seiten; die Irritation und die innere Zerrissenheit der Kinder, wenn sie die Spannungen zwischen ihren Eltern bemerken, und schließlich die Folgen, die eine Trennung für sie hätte. Allerdings glauben manche, das Problem trete gar nicht auf, wenn man einen Seitensprung oder eine Nebenbeziehung nur konsequent verheimliche. Aber auch das Verheimlichen hat Auswirkungen, nicht nur auf den Partner, sondern auch auf einen selbst. Man gewöhnt sich an die Lüge und hört auf, authentisch zu sein. Der Partner wird trotzdem merken, dass etwas nicht stimmt. Er wird irritiert sein, wenn kritische Fragen abgewiegelt werden. Mit der Entscheidung, den Partner zu täuschen, verlässt man die Basis einer fairen Beziehung. Das ist kein erwachsenes Verhalten. Es gibt andere Möglichkeiten, mit Beziehungsproblemen umzugehen, als sich in ein sexuelles Abenteuer zu flüchten. Man kann das Gespräch mit dem Partner suchen oder bei Bedarf fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.

4. Ein Weg in die Selbstentfremdung

Die problematischen Auswirkungen, die ein Seitensprung oder eine Nebenbeziehung für alle direkt und indirekt Betroffenen haben kann, sind evident. Aber das ist noch keine vollständige Antwort auf die Ideen der sexuellen „Befreiung“. Sie propagiert die „freie Liebe“ für alle, ob sie nun in einer festen Beziehung oder als Single leben. Und grundsätzlich, so könnte man argumentieren, sei doch nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen mit wechselnden Partnern Sex haben. Wenn beide Spaß haben, wo liegt dann das Problem? 

Auf diese Frage deutet sich im Lebensrückblick von Howard Storm eine Antwort an. Howard Storm hat die Zeit der sexuellen Revolution selbst miterlebt. Später hatte er eine Nahtoderfahrung. In einem Lebensrückblick wurde er mit seinem Verhalten in dieser Zeit konfrontiert. Die Einsichten, die er dabei gewann, veränderten sein Verständnis von Sexualität und Partnerschaft grundlegend. Dazu trug die ganzheitliche Perspektive bei, mit der er und die Lichtwesen, die ihn umgaben, auf sein Leben blickten. Die Aufmerksamkeit der Lichtwesen sei ausschließlich auf die zwischenmenschliche Ebene gerichtet gewesen. Sie waren „nur interessiert an den menschlichen Beziehungen und wie wir uns dabei entweder unterstützt oder einander verletzt hatten“ (2000, 101). Storm hebt die Botschaft hervor, mit der man in der Musik, im Fernsehen, in Filmen, Zeitschriften und Büchern „bombardiert“ worden sei. „Es war die Zeit des Rock’n Roll. Sie führte eine Botschaft mit sich, die mein jugendlicher Geist nur allzu gern akzeptierte. Die Botschaft war: Liebe ist romantische sexuelle Beziehung zu Menschen des anderen Geschlechts … Als Folge dieser unwiderstehlichen Botschaft betrachteten wir Frauen als Objekte für unsere sexuelle Befriedigung.“ (2000, 100) 

Der Lebensrückblick führte dazu, dass er diese Zeit aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Er wirft der sexuellen Revolution eine Art Etikettenschwindel vor. Sie habe versucht, das Verständnis von Liebe umzudeuten, indem sie sexuelle Lust als „wahre Liebe“ ausgegeben habe. Das Verständnis dafür, was Liebe eigentlich bedeutet, ging verloren. Weder er noch seine Generation hätten verstanden, dass Liebe und Sex nicht dasselbe sind. Er schreibt, es sei ihm peinlich gewesen, diese Periode seines Lebens zusammen mit den Lichtwesen ansehen zu müssen, weil sein Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden, in die falsche Richtung ging. „Wir hatten Spaß, und waren trotzdem unglücklich, weil wir am falschen Platz nach Liebe suchten.“ (2000, 101) 

Storm meint also, dass sein Interesse an romantischen, sexuellen Abenteuern oberflächlich gewesen sei und sich darunter ein tieferes Bedürfnis verborgen habe. Er und seine Generation hätten in Wahrheit nach Liebe gesucht, aber mit den falschen Mitteln. Wenn das zutrifft, wäre das ungehemmte Ausleben sexueller Bedürfnisse, wie es den Idealen der sexuellen „Befreiung“ entspricht, eine Form der Selbstentfremdung. Man agiert auf der Ebene der Triebbefriedigung, statt sich an seinen tieferen Bedürfnissen nach Wertschätzung und Liebe in einer intakten Beziehung zu orientieren. 

Kann man die These der Selbstentfremdung überprüfen? Es gibt aktuelle Entwicklungen, die in die gleiche Richtung weisen. Die Journalistin Peggy Orenstein hat über 70 Studentinnen interviewt und zeichnet anhand ihrer Aussagen ein Bild der sogenannten Hookup-Kultur an amerikanischen Colleges. Sie schreibt, dass es unverbindlichen Sex an Colleges auch früher gab. Neu sei aber, dass es heute die Regel ist, fast schon die Norm. Wer nicht mitmacht, wird zum Außenseiter. Sie zitiert Studenten mit der Ansicht, wer nicht fähig zu emotionslosem Sex sei, mit dem stimme etwas nicht. (2016, 104) In dem Buch werden die Widersprüche im Verhalten der Studentinnen deutlich. Sie lassen sich in etwa so zusammenfassen: „Sie machen sich zurecht, posten Selfies, checken ihre Likes, treffen sich mit Jungs, sind dabei emanzipiert …“ Gleichzeitig sehnen sie sich nach einer Zukunft, „in der sie Sex erfüllender finden, ehrlich gemocht und nicht nur abgeschleppt werden“. „Sie spüren zwar die Objektifizierung, die sie mit ihrer Selfie-Wut noch befördern, können sie aber nicht benennen.“ (Vahabzadeh 2016) 

5. Wenn Liebe ins Spiel kommt

Die These der Selbstentfremdung setzt voraus, dass der Wunsch nach Verwirklichung in einer Partnerschaft zurückgedrängt oder völlig verdrängt wird. Warum streben junge Mädchen keine Partnerschaft an? Die Studentinnen, die Peggy Orenstein befragte, gaben als Grund an, dass sie ihre Energie darauf richten wollten, ihre akademischen und beruflichen Ziele zu verfolgen. Für eine Beziehung seien sie zu „beschäftigt“. Es scheint, meint Orenstein, als seien in ihren Augen Romantik und Ehrgeiz unvereinbar. Die Hook-up-Kultur wäre dann eine Art Puffer, der es den Mädchen ermöglicht, einerseits ihre beruflichen Ziele zu verfolgen und trotzdem ein aktives Sexualleben zu haben. (2016, 107)

Hier deutet sich an, dass die Akzeptanz und Verbreitung von unverbindlichem Sex ihren Hintergrund in den Ansprüchen und Lebensbedingungen einer Leistungsgesellschaft haben. Beruflicher Ehrgeiz und Karriereplanung stehen im Konflikt mit dem Interesse an partnerschaftlichen Beziehungen. Auch manche Arbeitsbedingungen wie zum Beispiel Schichtarbeit, Arbeit am Wochenende und die Mobilität, die in vielen Berufen verlangt wird, können sich ungünstig auf die Entwicklung einer Beziehung auswirken. Es gibt viele Gründe, die es Menschen in unserer Gesellschaft schwer machen, eine gute Partnerschaft zu führen und die zum Scheitern beitragen. Dann liegt es nahe, Befriedigung in einer aus persönlichen Bindungen losgelösten Sexualität zu suchen. 

Für diese Menschen ist unverbindlicher Sex allerdings kein Ideal, sondern nur eine Kompromisslösung. Es ist eine „Ersatzbefriedigung“, aber nicht der Königsweg zum Glück, als den ihn die Protagonisten der sexuellen „Befreiung“ darstellen. Howard Storm, der vor seiner Nahtoderfahrung sein Leben nach dem „Lustprinzip“ ausgerichtet hatte, schreibt, zwar habe er immer wieder „flüchtige Momente“ sinnlicher Befriedigung erlebt, sei aber im Allgemeinen nicht glücklich gewesen. „Eigentlich war ich die meiste Zeit über leicht depressiv.“ (2000, 93) Er nimmt an, dass es anderen ähnlich erging. Die Erfahrung von Erfüllung, Lebenssinn und Lebensfreude ist nicht an das Ausleben eines isolierten, körperlichen Bedürfnisses geknüpft, mag dieses noch so mächtig und seine Befriedigung noch so „erregend“ erscheinen. Sie kann nur aus Ganzheitsbezügen erwachsen. Dafür sind viele Ebenen der Verwirklichung entscheidend, nicht nur die Partnerbeziehung. Aber das Gelingen einer Partnerschaft ist eine gute Voraussetzung dafür, das eigene Leben als erfüllend und bereichernd zu erfahren. 

Eine einseitige Orientierung an sexuellen Bedürfnissen ist dagegen nicht nur kein Weg zu dauerhaftem Glück. Sie zerstört auch die Voraussetzungen, die für ein erfülltes Leben in intakten Beziehungen notwendig sind. Sie kann verhindern, dass gute Beziehungen überhaupt erst entstehen. Storm schreibt, dass in der Zeit der sexuellen Revolution auch Männerfreundschaften daran scheiterten, dass man gleichzeitig „Rivale bei der Jagd nach Frauen“ war. (2000, 101) Ein losgelöster Sexualtrieb wirkt sich in jeder Hinsicht destruktiv auf Beziehungen aus. Wenn dem Luststreben Vorrang eingeräumt wird, können Frauen zu Sexualobjekten, Männer zu Konkurrenten und (bei einem Seitensprung) die engsten Familienangehörigen zu Opfern werden. 

In Lebensrückblicken kommen die Menschen wieder in Kontakt mit ihrem wahren Selbst. Sie entdecken (wieder) den Wert zwischenmenschlicher Beziehungen, vor allem auch der Beziehungen zu den engsten Angehörigen, zu Partnern und Kindern. Sie erkennen, dass die Liebe Vorrang hat, auch im Umgang mit der Sexualität. Storm schreibt, er habe erkannt, dass Gott an der Art und Weise, wie Menschen ihre Sexualität lebten, „nicht besonders interessiert“ sei. „Gott ist interessiert daran, wie wir einander lieben. Er will nicht, dass wir einander ausbeuten.“  (2001, 101) 

Wenn die Liebe ins Spiel kommt, verliert die Sexualität ihre dominante Rolle. Sie wird in die Partnerschaft integriert und damit zu einem Spiegel der Beziehung. Wenn die Beziehung harmonisch ist, kann die körperliche Vereinigung als Höhepunkt seelischer Verbundenheit erfahren werden. Aber auch Probleme können sich auswirken, etwa wenn ein Partner auf Grund von Beziehungsstörungen keinen Sex haben möchte. Respekt und Achtung voreinander erfordern es, die Sexualität in einem bestimmten Umfang auch zu kontrollieren, damit sie nicht ihr zerstörerisches Potenzial entfalten kann.

 

Quelle:
Joachim Nicolay, Nahtoderfahrung und Lebensrückblick, Santiago Verlag, Goch 2017

 

Literaturhinweise:
Amendt G, Sexfront. Frankfurt a. M. 1970
Dale, Crossing Over and Coming Home. Twenty-one Authors Discuss the Gay Near-Death Experience as Spiritual Transformation. Emerald Ink Publishing, 2001
Danison N, Backwards. Returning to Our Source for Answers. Columbus 2007
Freitag T, Das ist nicht harmlos. In: Publik-Forum, 22 / 2014, 41 – 43
Freud S Das Unbehagen in der Kultur. In: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974
Hilgers M, Leidenschaft, Lust und Liebe. Göttingen 2001
Orenstein P, Girls and Sex. Navigating The Complicated New Landscape. HarperCollins, New York 2016
Reich W, Die sexuelle Revolution. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1966
Ritchie GG, Mein Leben nach dem Sterben. J.Ch.Mellinger Verlag, Stuttgart 1995
Storm H, My Descent into Death. Clairview, Trowbridge 2000 (deutsch: Storm H, Mein Abstieg in den Tod … und die Botschaft der Liebe, die mich von dort zurückbrachte. Santiagoverlag, Goch 2008)
Tuider E, Müller M, Timmermanns S, Bruns-Bachmann P, Koppermann C, Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. Weinheim/Basel 2012
Vahabzadeh S, Objekt der Begierde. In: Süddeutsche Zeitung vom 16. 6. 2016 

Ein Gedanke zu “Nahtoderfahrungen und der Umgang mit Sexualität und Partnerschaft

  1. Vielen Dank für diesen ganzheitlichen Blick auf unser Menschsein, zu dem es gehört, auch einen sexuellen Aspekt zu haben. Hier wird dieser Aspekt und dessen Bedeutung im „big picture“, im Licht der Liebe beleuchtet. Ein heilsamer Text, der meine Seele beruhigt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert